Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
bei ihm bleibt und sich das bieten lässt. Vorausgesetzt, es ist wirklich so. Du hast keine Beweise, dass ihre Verletzungen von seinen Schlägen stammen.
Du hältst mich für blöd, wie?, hatte sie gekontert, glaubst du, ich bin blind? Wie lange arbeite ich jetzt in dem Beruf? Meinst du nicht, dass ich langsam ein Auge für das habe, was da wirklich abgeht?
Für Neundorf war die Sache klar. Die Frau in dem schönen geräumigen Haus in Ludwigsburg-Hoheneck war in jener Nacht Opfer ihres eigenen Ehemannes geworden. Wieder einmal, wie schon oft zuvor wahrscheinlich.
»Sie haben recht«, hatte Nathalie Binninger zugegeben. »Genau das ging mir durch den Kopf. Ich habe mir überlegt, ob ich ihn nicht verlassen sollte. Endgültig. An diesem Morgen.«
»Können wir unter vier Augen darüber sprechen?«
»Er ist weg, in der Firma. Ich nehme an, wieder den ganzen Tag. Wenn Sie wollen …«
Neundorf hatte keine Sekunde gezögert, ihr sofort zugesagt.
Sie musste nicht lange warten, als sie die Glocke von der Gartenpforte aus betätigt hatte. Nathalie Binninger öffnete die Haustür, winkte sie zu sich her. Zwei große Wundpflaster verdeckten ihre linke Wange und die rechte Partie des Kinns. Sie reichte der Kommissarin die Hand, bat sie ins Haus.
Neundorf folgte ihr durch die mit hellen Fliesen ausgelegte Diele in den bekannten großen Wohnraum, nahm in demselben Sessel Platz wie zwei Tage zuvor.
»Darf ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte ihre Gastgeberin.
»Ich komme gerade vom Frühstück«. Neundorf zögerte einen Moment, entschied sich dann dafür, die Atmosphäre aufzulockern. »Vielleicht ein Wasser«, fügte sie deshalb hinzu.
Nathalie Binninger nickte, verschwand kurz aus dem Raum, kehrte nicht lange darauf mit einer Karaffe voll Wasser und zwei Gläsern zurück, stellte alles auf dem großen rechteckigen Tisch in der Mitte des Zimmers ab. Sie schenkte beide Gläser etwa dreiviertel voll ein, reichte eines ihrer Besucherin.
Neundorf beugte sich vor, nahm es entgegen, bedankte sich. »Ihr Mann ist unterwegs?«, fragte sie. Sie trank einen Schluck, stellte das Glas auf den Tisch.
Die Frau nickte. »In der Firma, wie immer.«
»Auch am Wochenende?«
»Fast jeden Samstag und Sonntag. Er ist der Geschäftsführer. Über sechshundert Beschäftigte. Da gibt es keine Pausen. Jedenfalls nicht so, wie er es praktiziert. Karriere, Karriere, Karriere.«
»Und wenn er den Stress dann mit Alkohol bekämpft, schlägt er zu«, sagte Neundorf.
Eine kleine, grauweiß getigerte Katze stiefelte ins Zimmer, drückte sich an Nathalie Binningers Beine. »Das ist Rafael«, erklärte sie, strich dem Tier über den Rücken. Der Kater schnurrte laut, wand sich vor Wonne auf dem Boden.
Neundorf bewunderte die Szene vor sich, spürte selbst, wie wenig ihre kritische Bemerkung jetzt passte. Der Kontakt mit dem Tier war wohl einer der wenigen Fluchtpunkte, die Nathalie Binninger im Moment zur Verfügung standen.
»Rafael ist vielleicht der einzige Grund, warum ich am Dienstagmorgen doch noch mal hierher kam. Ohne ihn …« Sie ließ den Satz unvollendet, musste nichts mehr hinzufügen, um ihre Situation zu verdeutlichen.
»Dann saßen Sie also mehrere Minuten vor der Tankstelle und überlegten, wie Sie sich entscheiden sollten.«
Ihre Gastgeberin schaute kurz zu ihr herüber, nickte, widmete sich dann wieder der Katze.
Stundenlang hatte Neundorf darüber gebrütet, welche Schlussfolgerung der Aussage Nathalie Binningers zu entnehmen war. Wenn die Frau, wie sie nachdrücklich behauptete, nicht weit vom Eingang des Tankstellenshops entfernt geparkt und diesen die ganze Zeit über im Blick hatte, also genau mitbekam, dass in den Minuten nach ihrem Besuch des Ladens niemand zur Tür gelaufen war und diese passiert hatte, dann …
Entweder die Täter waren schon vorher im Laden und hielten sich in einem Nebenraum oder sonst wo versteckt, so raffiniert jedenfalls, dass es Herbert Wössner, der Verkäufer nicht bemerkt hatte und sie auch nicht in den Blickwinkel der beiden Überwachungskameras geraten waren oder …
Neundorf war noch einmal zur Tankstelle gefahren und hatte den Shop besichtigt. Kein Nebenraum, nur eine Toilette unweit der Verkaufstheke, deren Vorzimmer zur Aufbewahrung kleiner Warenbestände benutzt wurde. Danach hatte sie sich die Videos noch einmal vor Augen geholt, sich das Geschehen auf dem Bildschirm betrachtet, zuerst die letzten sechzig, dann die letzten einhundertzwanzig, danach sogar noch die letzten
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