Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
einhundertachtzig Minuten vor dem Überfall. Die Eingangstür des Verkaufsraums war ständig im Blickwinkel einer der beiden Kameras, ebenso die Tür zur Toilette. Niemand konnte den Laden oder die Toilette betreten, ohne von ihnen erfasst zu werden. Die Kunden waren gekommen und gegangen, sie hatte genau darauf geachtet, bis ihr plötzlich eine Person aufgefallen war ….
Um 4.17 Uhr, hundertfünfundfünfzig Minuten vor dem Überfall also, hatte die Frau den Laden betreten, den Kopf nach unten, von den Kameras weg in Richtung Boden gebeugt. Zielstrebig war sie zur Verkaufstheke gelaufen, hatte sich dort kurz an den ausgelegten Schoko-Riegeln zu schaffen gemacht, war dann plötzlich aus dem Bild verschwunden, hinter der Theke abgetaucht, wie Neundorf nach mehrmaligem Wiederholen der Filmsequenz bemerkt hatte. Und dann?
Sie hatte sie nicht mehr gesehen, nicht eine Sekunde während der restlichen hundertfünfundfünfzig Minuten ….
»Er war total außer sich in der Nacht.«
Neundorf schreckte aus ihren Gedanken, nahm Nathalie Binningers Worte erst nach mehreren Augenblicken Überlegens in ihrer vollen Bedeutung wahr. »Sie wissen den Grund?«
Die Frau ließ von dem Tier ab, nickte. »Er hat sie vor mir auf den Nachttisch geworfen, bevor er auf mich einschlug.«
»Was hat er auf den Nachttisch geworfen?« Ihre Gastgeberin schob die Katze, die zu ihr aufs Sofa gesprungen war, zur Seite, stand auf, lief aus dem Raum. Der Kater drehte sich um sich selbst, tastete das Polster nach einer besonders weichen Stelle ab, rollte sich dann dort ein. Sein kräftiges Schnurren war durch den ganzen Raum zu hören. »Hier, das war diesmal der Grund.« Nathalie Binninger streckte Neundorf mehrere Fotos entgegen.
»Diesmal«, wiederholte die Kommissarin. »Es geht schon lange so.«
Ihre Gesprächspartnerin verzichtete auf eine Antwort, nickte nur.
Die Kommissarin betrachtete die Fotos, begriff sofort, worum es sich handelte. Auf allen Bildern dasselbe Motiv, nur in jeweils verschiedenen Variationen. Ein nackter Mann und eine nackte Frau, in eindeutiger Weise miteinander beschäftigt. Der Mann war ihr unbekannt, die Frau …
Sie stand vor ihr, wartete auf ihren Kommentar.
»Sie sind echt?«, fragte Neundorf.
»Nein«, erwiderte Nathalie Binninger, »das sind Fälschungen. Alle. Komplett.« Sie schaute ihrer Besucherin in die Augen, hielt deren prüfendem Blick stand.
»Fälschungen.« Die Kommissarin spitzte überrascht den Mund.
»So wahr ich hier stehe. Wir haben nie etwas miteinander …«
»Sie kennen den Mann?«
Nathalie Binninger nickte. »Ein guter Freund. Aber wirklich, ich sage Ihnen die Wahrheit, wir haben nie …«
»Wo hat Ihr Mann die Fotos her?«
»Ich weiß es nicht. Irgendwann in der Nacht, Sie wissen schon, kurz vor der Sache mit der Tankstelle, kam er damit an. Ich lag längst im Bett. Dann ging es wieder los.«
»Er überfiel Sie mitten im Schlaf.«
»Ich glaube, Mitternacht war längst vorbei. Er schrie auf mich ein, riss das Bettzeug weg, knallte die Fotos vor mir auf den Nachttisch. Ich weiß nicht, wie er zu ihnen kam. Sie sind auf jeden Fall falsch. Irgendjemand hat sie manipuliert.«
»Ihr Mann selbst? Halten Sie ihn dazu imstande?«
»Mein Mann?« Nathalie Binninger ließ sich auf das Sofa unmittelbar neben die Katze fallen. Das Tier schaute überrascht auf. »Sie meinen, er selbst …?« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Aber nein, wieso denn? Er glaubte doch, die seien echt! Was denken Sie, wie oft er mir das in dieser Nacht an den Kopf geworfen hat.«
Neundorf begann zu verstehen. »Dann sollten wir uns darum kümmern. Das ist ein Fall für uns, eindeutig. Da wollte jemand Ihren Mann gegen Sie aufhetzen. Eine dritte Person. Wer könnte das sein?«
Ihre Gastgeberin griff nach dem Wasserglas, nippte vorsichtig daran. »Was glauben Sie, wie oft ich mich das in dieser Woche schon gefragt habe. Die Fotos sind gefälscht. Wer macht so etwas? Warum?«
»Gibt es eine Person, die Sie und Ihren Mann auseinanderbringen will oder sich davon Vorteile verspricht?« Sie warf erneut einen Blick auf die Fotos, konnte nichts daran erkennen, was auf Manipulationen schließen ließ. Wenn sie wirklich gefälscht waren und davon ging sie aus, weil sie der Frau glaubte, dann war es das Werk eines Profis, der sein Handwerk perfekt beherrschte. Sie hörte das Signal ihres Handy, fragte nach dem Mann auf den Bildern. »Wie eng sind Sie mit ihm befreundet? Wirklich gut?« Sie griff nach ihrem Telefon, warf
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