Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer
auseinander. Wurde mir jedenfalls so erzählt. Hast du etwas dagegen, dass ich dich zu ihr begleite?«
15. Kapitel
Wann und wo immer man in der Geschichte des deutschen Südwestens nach den Wurzeln, den Triebfedern zu sozialem Fortschritt und demokratischen Reformen der Gesellschaft sucht, eine alle Zeiten überdauernde Gemeinsamkeit lässt sich nicht übersehen: Jede das alltägliche Leben der Menschen bereichernde Errungenschaft musste von den kleinen Leuten gegen die jeweils herrschende Clique mühsam erkämpft werden, oft unter dem Einsatz des eigenen Lebens. Dem einfachen Volk blieb und bleibt es überlassen – vom Aufstand des »Armen Konrad« 1514 im Remstal bis zu den allwöchentlichen Montagsdemonstrationen in Stuttgart heute im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends – das korrupte Geflecht zwischen Herrschenden und Besitzenden bloßzustellen und deren übelste Machenschaften wenn möglich zu verhindern oder wenigstens abzumildern.
Die rührigsten Streiter, die wirkungsvollsten Aktionen kamen dabei – wen wundert’s – nicht aus der unmittelbaren Umgebung des verfilzten Großkopfeten-Klüngels, nein, sie entsprangen fast ausnahmslos der Provinz. Beruht es auf Zufall oder lässt es sich wissenschaftlich begründen – auffallend viele der Bestrebungen nach einer humaneren Gesellschaft, nach demokratischer Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit wurzeln in Reutlingen. Wie kein anderer Ort im Schwäbischen zeigt sich diese Stadt über die Jahrhunderte hinweg geprägt vom Kampf und dem Engagement seiner Bürger um eine fortschrittliche, gleichberechtigte Zivilgesellschaft.
Schon 1521 mit dem unmittelbaren Beginn der Reformation wagte es die freie Reichsstadt Reutlingen, sich als erste Gemeinde im Südwesten von den Fesseln Roms zu lösen und die Gottesdienste in der Stadt in lutherischer Weise in deutscher Sprache und nicht mehr in lateinischen Formeln, somit allen Einwohnern verständlich abhalten zu lassen. Innerhalb kurzer Zeit strömten die Menschen aus der gesamten Umgebung zu den Predigtdisputationen des Reutlinger Theologen Matthäus Alber.
Die Reaktion der um ihre unbegrenzte Allmacht fürchtenden Machthaber erfolgte postwendend: Der erzkatholische, österreichische Erzherzog Ferdinand, der Bruder Kaiser Karls V., der seit 1519 die Herrschaft über Württemberg inne hatte, weil dessen Herzog Ulrich zum gefährlichen Unruhestifter erklärt und aus dem Land vertrieben worden war, bedrohte die kleine Stadt und forderte den Tod Matthäus Albers. In höchster Not diskutierte der Rat Reutlingens über die erforderlichen Konsequenzen, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Erst die einzigartige Courage eines Großteils der Reutlinger Bürger führte zum endgültigen Widerstand der Stadt gegen die römisch-österreichische Despotie: Nach einem großen Brand im Zentrum der Stadt an Pfingsten 1524, der nur mit dem Einsatz aller Einwohner gelöscht werden konnte, verharrten die Reutlinger auf dem Marktplatz und berieten gemeinsam mit Matthäus Alber das Verhalten der Stadt. Ohne jedes Wenn und Aber wurde der Rat der Stadt im berühmten »Reutlinger Markteid« von der versammelten Bürgerschaft beauftragt, Widerstand gegen die katholische Großmacht zu leisten.
Nur glückliche politische Umstände verhinderten, dass der wirtschaftliche Boykott über Reutlingen verhängt wurde: Der Aufmarsch türkischer Soldaten vor den Toren Wiens zwang die katholischen Herrscher, die renitenten Mitbürger um die Mithilfe bei der Abwehr der Muslime zu bitten. So konnte Reutlingen postwendend vom Mut seiner Bürger profitieren: Gottesdienste und Disputationen wurden in deutscher Sprache gehalten, Schulmeister angestellt und Schulen für die ganze Bevölkerung eingerichtet, das Franziskanerkloster in ein großes Krankenhaus umgewandelt.
Dreihundert Jahre später, wieder ausgehend von einem Pfingstereignis, wurde die Stadt erneut zum landesweit einzigartigen Symbol der Freiheit. Seit 1806 Teil des Königreichs Württemberg, zeigten die Reutlinger wie keine andere Gemeinde des Landes ihren Willen zur Umgestaltung der Herrschaftsstrukturen. Die Stadt präsentierte sich als Hochburg republikanischen Denkens, der Schulmeister Kapf als Symbolfigur demokratischer Gesinnung im Ländle. Der Reutlinger »Volksverein« forderte 1848 zeitgleich mit der Versammlung der deutschen Demokraten in Frankfurt Grundrechte wie die Pressefreiheit für jeden Bürger. An Pfingsten 1849 trafen sich etwa 15.000 Mitglieder von »Volksvereinen« aus dem ganzen
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