Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer
Land in der Stadt, von einem großen Kontingent württembergischer Soldaten »beschützt«. Die Reutlinger seien ebenso rote Luder wie die Badenser, urteilte einer der mit der Überwachung beauftragten Offiziere – welch andere Gemeinde im Ländle darf sich mit einem ähnlichen Adelsprädikat schmücken?
Bleibt zu ergänzen, dass auch zwei der wichtigsten Kämpfer für wirtschaftlichen Fortschritt und soziale Gerechtigkeit in Reutlingen zu Hause sind: der Nationalökonom Friedrich List, der sich zeitlebens für den Bau von Eisenbahnen als Garant wirtschaftlichen Wohlergehens engagierte, und der Theologe Gustav Werner, der im 19. Jahrhundert von seinem Reutlinger »Bruderhaus« ausgehend ein Netz von Rettungshäusern im gesamten Südwesten ins Leben rief, die Tausenden von Behinderten, Kranken, Waisen und Verelendeten Arbeit, Ausbildung, Unterkunft und Verpflegung schufen und somit weltweit zum Vorbild nachhaltiger sozialer Hilfeleistung wurden.
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Gedanken an diese Tradition der Stadt gingen Braig durch den Kopf, als er an diesem Donnerstagnachmittag aus dem im sechsten Obergeschoss gelegenen, lichtdurchfluteten Arbeitsraum eines der modernen Reutlinger Hochschulgebäude blickte. Die weitläufigen Fensterfronten des auf einer Anhöhe am westlichen Rand der Stadt gelegenen Campus’ gestatteten einen reizvollen Ausblick auf das hügelige, dicht besiedelte Vorland der Alb und die dahinter aufragende, fast senkrecht über mehr als zweihundert Höhenmeter ansteigende, durchgehend von dichtem Wald bewachsene Mauer des Albtraufs. Zu Füßen des Hochschulgeländes erstreckte sich das weitläufige Häusermeer Reutlingens, wie auf einem eigens für Touristen arrangierten Postkartenidyll markant von der über siebenhundert Meter hohen Achalm mit ihrem Aussichtsturm überragt.
Selbst das urige Gebäude des Pfullinger Schönbergturms, im Volksmund treffend »die Onderhos« genannt, war südlich der Stadt zu erkennen. Das 1905 auf 793 Metern Höhe errichtete, vom Pfullinger Papierproduzenten Laiblin finanzierte Bauwerk bestand aus zwei filigranen, mit spitz zulaufenden Dächern gekrönten Türmen, die oben durch eine Brücke miteinander verbunden waren und wirklich verblüffend an eine jener altmodischen, langbeinigen Unterhosen erinnerten, die in längst vergangenen Jahrzehnten getragen worden waren. Anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Doppelturms hatte man unter der Federführung der Tübinger Aktionskünstler Bachschuster und Knodel eine riesige, aus fast 420 Metern Stoff bestehende Unterhose herstellen lassen und sie dem Gebäude mit Hilfe eines Hubschraubers »angezogen«. Einen ganzen Sommermonat lang ragte der Schönbergturm so verkleidet und des Nachts angestrahlt von der Bergspitze in den Himmel, eine der skurrilsten Szenerien, die Braig je gesehen hatte.
Natürlich wusste er auch, welches andere, einzigartig filigrane Bauwerk sich wenige Kilometer südlich der Unterhose über den schroffen Felsen des Albrandes erhob: das den schriftlichen Ausführungen des 1826 erschienenen Romans »Lichtenstein« des jungen, allzu früh verstorbenen Dichters Wilhelm Hauff nachempfundene, gleichnamige kleine Schloss. »Wie das Nest eines Vogels auf die höchsten Wipfel einer Eiche oder auf die kühnsten Zinnen eines Turmes gebaut, hing das Schlösschen auf dem Felsen«, hatte Hauff phantasiert, ohne zu ahnen, dass der Herzog Wilhelm von Urach, Graf von Württemberg, sechzehn Jahre später genau dieses Traumgebilde in Stein gemeißelt errichten ließ. Wie gebannt starrte der Kommissar jedes Mal aufs Neue, wenn ihn der Weg ins schmale Echaztal südlich von Reutlingen führte, von Hönau oder Traifelberg aus zu dem filigranen Märchenschloss hoch, ein Anblick, der nie an Faszination verlor. Das kleine, bescheidene Lichtenstein war längst zum Wahrzeichen schwäbischer Romantik geworden – im Gegensatz zu anderen Ländereien jedoch immer noch viel zu wenig bekannt.
Lägen der Stadt und ihrer Umgebung nicht so ausgeprägt landestypische Charakterzüge wie schwäbisches Understatement und die daraus resultierende Ablehnung jedes marktschreierischen Protzes im Blut, das landschaftliche wie das städtebauliche Potential hätten Reutlingen und der gesamten Region weit höhere Wertschätzung und Bekanntheit beschert, ging es Braig durch den Sinn. Doch so reizvoll sich der Ausblick hier auch gestaltete, die Schlagzeilen der Tourismusindustrie wurden seit jeher von jenen Kitschlandschaften im Südosten der Republik dominiert,
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