Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer
auf deren ewig gleichförmigen Voralpenwiesen sich neben weiss-braun geschecktem Milchvieh tief dekolletierte Dirndln und krachlederne Mannsbilder tummelten und im Disney-Stil errichtete Zuckerbäckerschlösser in den blauen Himmel wuchsen. Schwabens Nachbarn hatten es schon immer besser verstanden, sich lautstark in Szene zu setzen.
Dass Reutlingen zudem eine der weltweit führenden betriebswirtschaftlichen Fakultäten, ein Juwel wissenschaftlicher Forschung und Lehre, beherbergte, die in sämtlichen Rankings stets aufs Neue Spitzenplätze belegte, war Braig erst im Vorjahr bei einem Gespräch mit einem der Professoren der ESB Business School der Hochschule Reutlingen bewusst geworden. Die Mehrzahl der internationalen Auszeichnungen und Preise war in den vergangenen Jahrzehnten in aufsehenerregender Regelmäßigkeit nicht den betriebswirtschaftlichen Fakultäten in München, Frankfurt oder Köln, sondern der ESB an der staatlichen Hochschule Reutlingen zuteil geworden. Die Reutlinger Denkfabrik profitierte in besonderem Maße von ihrer Zusammenarbeit mit Hochschulpartnern in vielen Ländern der Welt sowie ihrer intensiv gepflegten Ausbildungskooperation mit unzähligen international tätigen Firmen. Dass sich diese Bemühungen auch in einem stetig anwachsenden Interessentenkreis studierwilliger, junger Menschen aus aller Herren Länder niederschlug, war auf dem gesamten Campus nicht zu übersehen. Junge Frauen und Männer der verschiedensten Nationalitäten strömten umher oder saßen in eifrige Gespräche vertieft auf den Grünflächen des weitläufigen Hochschulgeländes.
»Meine Herren, was bin ich froh, dass wir nicht den Aupperle hergeschickt haben«, hatte Neundorf beim Betreten des Campus’ geäußert, Scharen junger, auffallend gut aussehender Frauen im Blick.
»Du meinst, die Versuchungen, Kontakte zu knüpfen, hätten seine beruflichen Aufgaben beeinträchtigt?«
»Beeinträchtigt? Du glaubst doch nicht, der hätte sich hier in dieser Umgebung auch nur für eine Sekunde erinnert, dass er irgendwann einmal einen Beruf ergriffen hat?« Sie hatte auf zwei junge, bildhübsche Frauen gedeutet, die Englisch parlierend auf sie zugekommen waren. »Aupperle hätte höchstens um ein Zimmer im Studentinnenwohnheim nachgesucht, mit lebenslangem Aufenthaltsrecht dort.«
Braig hatte gelacht, kurz darauf fasziniert die junge Frau betrachtet, die sich ihnen als Kerstin Svedholm vorgestellt hatte. Eine nordische Schönheit mit langen, blonden Haaren, einem schmalen, von einer kleinen Stupsnase geprägten Gesicht und leuchtend blauen Augen. Ihre vornehme Kleidung, sie trug eine royalblaue Jacke über einer fein ziselierten, weißen Bluse, dazu dunkle Jeans, verstärkte den Eindruck einer außergewöhnlichen Erscheinung. Kein Wunder, war es Braig im ersten Moment des gegenseitigen Kennenlernens durch den Kopf gegangen, dass sich sowohl Christian Fitterling als auch Roland Allmenger um ein Verhältnis mit dieser Frau bemüht hatten. Ein Verhältnis, das für beide Männer nicht ohne schlimme Folgen geblieben war?
Aller beruflichen Erfahrung zum Trotz fiel es ihm schwer, sich auf diesen Gedanken einzulassen. Natürlich durfte man sich nicht vom Äußeren eines Menschen, von seinem Aussehen und seinem Auftreten beeinflussen lassen, zu oft hatten sich gerade die scheinbar freundlichsten Damen und Herren als die hinterhältigsten Ganoven entpuppt, die buchstäblich über Leichen gegangen waren, um ihre eigenen Interessen eiskalt durchzusetzen. Alle Kraft darauf zu konzentrieren, den Gesprächspartner bewusst hinters Licht zu führen, war oft genug von Erfolg gekrönt – auch einem erfahrenen Kriminalbeamten gegenüber, das wusste Braig aus eigener Erfahrung. Diese junge Frau jedoch …
Er hatte Neundorf und sich vorgestellt, war dann gemeinsam mit seiner Kollegin von Kerstin Svedholm in deren Arbeitszimmer im sechsten Obergeschoss des Hochschulgebäudes gebeten und mit einem Stuhl versorgt worden. Es handelte sich um einen geräumigen, etwa acht auf zehn Meter großen Raum mit mehreren hellen Arbeitstischen, Wandschränken, Regalen und Computern. Bücher, Aktenordner, Papiere stapelten sich auf den Tischen. Dass er sich hier in einer Art Büro aufhielt, war nicht zu übersehen. Die großen Fenster mit ihrem prächtigen Landschaftspanorama ließen dennoch eine aufgelockerte, in keiner Weise an trockene, schweißtreibende Arbeit erinnernde Atmosphäre entstehen.
»Darf ich Ihnen einen Kaffee oder einen Tee anbieten?«
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