Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer
Flusses eine zweite Festung zu bauen. Innerhalb kurzer Zeit führte das zur funktionalen Teilung des Ortes: Die Unterstadt wurde zum Zentrum der Handwerker und des Marktes, oben siedelten die Bauern. Bald zur Stadt erhoben, wurde die jüngere Burg im 16. Jahrhundert in ein Renaissance-Schloss samt benachbarter Kirche umgebaut. Deren später hinzugefügter barocker Schmuck wie die Errichtung der ebenfalls barocken St. Anna-Kirche am höchsten Punkt Haigerlochs ließen das Städtchen zum Ziel etlicher katholischer Wallfahrer werden.
Braig wusste noch allzu gut, wie schnell er im vorletzten Sommer gemeinsam mit Ann-Katrin dem überladenen Inneren dieser Gotteshäuser entflohen war. Umso mehr hatten sie das faszinierende landschaftliche und städtebauliche Panorama und die Atmosphäre der kleinen Stadt genossen. Er erinnerte sich noch genau an den Besuch eines kleinen, über zwei Stockwerke und mehrere verwinkelte Räume verteilten Galerie-Cafés im Steilanstieg zur Oberstadt, den anheimelnden Flair des kleinen Gebäudes und den einzigartig guten Geschmack der Kirschkokostorte, die sie dort genossen hatten. »Der beste Kuchen meines Lebens«, hatte seine Lebensgefährtin noch lange nach ihrem Besuch in Haigerloch geschwärmt und immer wieder darauf gedrängt, einen Ausflug in die kleine Stadt zu unternehmen.
Die Gedanken an den schon fast vierundzwanzig Monate zurückliegenden Besuch des Ortes gingen ihm durch den Kopf, als er durch die schmale Pfleghofstraße vollends in die Oberstadt lief. Es war ihm an diesem Freitagmorgen kurz nach Betreten seines Büros endlich gelungen, Janet Reiss, eine jener beiden Frauen, die Eva Seibold als »Schlampe von Hechingen« bezeichnet hatte, zu erreichen. Er hatte sich der Frau vorgestellt und von ihr erfahren, dass sie als Lokführerin bei der Hohenzollerischen Landesbahn arbeitete und an den vergangenen beiden Tagen einer beruflichen Fortbildung wegen nicht zu erreichen gewesen war, den Freitag und das gesamte Wochenende aber in der Wohnung ihrer Schwester in Haigerloch verbringen würde. Braig hatte sich die genaue Lage des Hauses beschreiben lassen, sich dann mit ihr, ohne auf seine Beweggründe einzugehen, zu einem Gespräch gegen elf Uhr verabredet.
Janet Reiss schien deutlich von Müdigkeit gezeichnet, als er zehn Minuten nach dem vereinbarten Termin vor ihr stand. Sie steckte in einem weiten, weißen Hausmantel, ihre kurzen, dunklen Haare standen wirr in alle Richtungen von ihrem Kopf ab. Sie hatte Mühe, den Hausmantel mit der linken Hand zusammenzuhalten, war ihre Rechte doch ständig damit beschäftigt, sich den Schlaf oder was auch immer aus den Augen zu reiben. Braig schätzte sie auf Anfang, Mitte dreißig, sah sich nach kurzem Zögern von ihr ins etwas ungeordnete, mit den verschiedensten Spielsachen übersäte Wohnzimmer geführt.
»Meine Schwester ist mit ihrer Familie ein paar Tage weg«, erklärte Janet Reiss. »Sie müssen entschuldigen, ich bin erst heute Nacht gekommen.« Sie bot ihm Platz auf dem Sofa an, warf einen dicken Teddybären aus dem Sessel, ließ sich selbst, die Beine unter den Hintern geschoben, darin nieder.
Braig setzte sich, sah, wie sein Gegenüber mühsam den Hausmantel zurechtzurrte.
»Sie kommen wegen des tragischen Geschehens um Herrn Fitterling?«
»Tragisch?« Er wunderte sich über den Ausdruck, warf der Frau einen überraschten Blick zu. Sie fuhr sich mehrmals über die Augen, versuchte immer noch, ihre Müdigkeit zu vertreiben. Ein Mord als tragisches Geschehen. Na ja, wenn man die aktive Rolle des Täters außer Acht ließ, konnte man das vielleicht tatsächlich so formulieren.
»Sein Tod, meine ich.« Sie gähnte ausgiebig, entschuldigte sich. »Verzeihung, ich bin immer noch etwas groggy.«
»Ihre Fortbildung war anstrengend.«
»Doch, das kann man sagen, ja. Diese neuen Loks sind wahre High-Tech-Wunderwerke. Wenn Sie sich da nicht ständig mit der neuesten Software beschäftigen, haben Sie keine Chance, die zu beherrschen. Das wird immer komplizierter.«
»Wo fand die Fortbildung statt?«
Janet Reiss warf ihren Kopf zurück, betrachtete ihren Besucher mit starrem Blick. »Sie wollen alles ganz genau wissen, was?«
»Ich bin Kriminalbeamter.« Braig setzte ein freundliches Lächeln auf. »Alles zu hinterfragen, bringt mein Beruf so mit sich.«
»Na gut, dann will ich Sie nicht länger auf die Folter spannen. Die Fortbildung war in Krefeld. Das liegt bei Düsseldorf, auf der anderen Seite des Rheins.«
»Sie waren
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