Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer
…«
»Es ist Kerstins Entscheidung. Ich kann ihr nichts vorschreiben.«
»Nein«, hatte Neundorf ihr zugestimmt. »Das können Sie nicht.« Sie hatte versucht, sich zu beruhigen, die Folter erwähnt, der Allmenger unterworfen worden war. »Ein Stück weit hat er ja schon seine Strafe gefunden.«
Madeleine Senges hatte sofort verstanden. »Die Sache mit der Badewanne. Ich habe mich gefreut, als ich hörte, dass er das Opfer war. Richtig gefreut. Das hat gut getan.«
Sie hatten die Angelegenheit Punkt für Punkt durchgesprochen, jede Minute der Rückfahrt für ihre Überlegungen nutzend, waren dennoch zu keinem abschließenden Urteil gekommen. Hatte Allmengers Badewannentortur mit seiner versuchten Gewalttat an der jungen Studentin zu tun? Waren die beiden Frauen übereingekommen, die Sache nicht zur Anzeige zu bringen, um sich die langwierigen, in jedem Fall demütigenden und die Erinnerung an das Geschehen wieder aufwühlenden Gedanken zu ersparen und die Angelegenheit dafür – umso effektiver – selbst zu erledigen? Kerstin Svedholm gemeinsam mit Madeleine Senges oder einer anderen Frau als Rächerinnen in eigener Sache? Vergeltung für ein unentschuldbares Verhalten, weil man der Polizei und der Justiz nicht traute?
Braig und Neundorf wussten nicht, wie sie ihre neuesten Erkenntnisse zu den beiden Verbrechen einordnen sollten, sahen sich die ganze Zeit einem weiteren Dilemma gegenüber: Wie in aller Welt passte ein möglicher Racheakt der jungen Studentinnen an Robert Allmenger zu dem Mord an Christian Fitterling? Hatte auch er versucht, sich eine der Frauen gewaltsam gefügig zu machen? Oder war es ihm gar geglückt?
»Das ist der Punkt«, war Neundorf sich sicher. »Möglicherweise handelt es sich bei dem Kerl um ein ähnliches Schwein. Und im Gegensatz zu Allmenger hatte Fitterling Erfolg. Deswegen beließen sie es nicht bei der Folter.«
»Fragt sich dann nur noch, wer in diesem Fall das Opfer war.«
»Genau«, erklärte seine Kollegin. »Das ist die eine Frage. Und die zweite, vielleicht viel wichtigere: Sind wir nicht verpflichtet, die Frau, welche immer es war, in Ruhe zu lassen, weil der Saukerl ganz einfach verdient hat, was mit ihm geschehen ist?«
17. Kapitel
Haigerloch, das war für Braig bis zu seinem Besuch des kleinen Städtchens im vorletzten Sommer der Ort am Rand der Schwäbischen Alb, in dem in den letzten sechs Monaten des Zweiten Weltkriegs Versuche zur Kernspaltung durchgeführt worden waren. Physiker wie Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker und Karl Wirtz hatten sich hier Ende 1944 und Anfang 1945 an der Entwicklung eines Kernreaktors mit Uran und Schwerem Wasser als Moderator versucht. Sie waren vor den intensiven Bombenangriffen aus Berlin geflohen, hatten im Bierkeller des Haigerlocher Schwanenwirts im Schutz eines mächtigen Bergkegels Schutz gefunden. Der massive Hohlraum war Jahrzehnte vorher im Zusammenhang mit dem Bau des Tunnels der Hohenzollerischen Landesbahn entstanden, durch den diese den Haigerlocher Bergrücken unterfährt. Nach wenigen Monaten unter hohem Druck durchgeführter Forschungen war die Anlage am 23. April 1945 von den Amerikanern besetzt und mitsamt den führenden Wissenschaftlern in die USA verfrachtet worden. Der originalgetreue Nachbau des Reaktors wie der Arbeitsutensilien der weltbekannten Physiker ließ sich heute an Ort und Stelle im alten Bierkeller museal bestaunen.
Was Braig bei seinem Besuch im vorletzten Sommer jedoch weit mehr beeindruckte als das Atomkellermuseum war die außergewöhnliche Lage Haigerlochs. Selten hatte er einen Ort mit einer derart faszinierenden Topographie zu Gesicht bekommen wie dieses kleine Städtchen. Nicht einmal zweitausend Einwohner beherbergend zog sich die einstige Residenz der Grafen von Hohenzollern-Haigerloch (16. Jahrhundert) und der Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen (17. Jahrhundert) halbmondförmig aus dem schluchtartig engen Tal der Eyach steil einen schmalen Bergrücken hoch.
Schon beim Aussteigen aus der von Eyach nach Hechingen führenden Museumsbahn war Braig der Faszination des bizarren landschaftlichen Panoramas und der prächtigen Kulisse des Städtchens verfallen. So klein und überschaubar der Ort auch war, er hatte es in sich.
Auf eine im späten 11. Jahrhundert gegründete Burg in unmittelbarer Nähe des heute noch prächtig erhaltenen Römerturms zurückgehend, verwirklichten die Grafen von Hohenberg keine hundert Jahre später ihren Plan, auf der anderen Seite des
Weitere Kostenlose Bücher