BRAINFUCK
…
Fünftausendneunhundertdreiundneunzig …
Ich erreichte den Einstieg zum ›Gamssängersteig‹ und bedauerte, dass das Wetter so schlecht war. Von hier aus hatte man bei klarer Witterung eine herrliche Aussicht über die bizarren Formationen der ›Fleischbank‹ und des ›Totenkirchl‹ im Westen und den ›Großvenediger‹ im Süden. Im Windschutz zweier übermannshoher Felsblöcke gönnte ich mir eine Brotzeit. Salami, ein Stück Gurke, zwei Tomaten und vier Scheiben Brot, die dick mit Butter bestrichen waren. Das Ganze spülte ich mit großen Schlucken Tee aus der Thermoskanne hinunter. Da der Körper nicht zu sehr auskühlen durfte, brach ich bald wieder auf. Vor mir lag jetzt der ›Obere Boden‹, der zwar bei Weitem nicht so steil wie das zurückliegende Wegstück, jedoch tief verschneit war, sodass ich nicht mit sichtbaren Wegmarkierungen rechnete.
Siebentausendachthundertvier …
Siebentausendachthundertfünf …
Die Überquerung der freien Fläche gestaltete sich einfacher, als ich vermutet hatte. Nach links öffnete sich jetzt das ›Kar‹, durch das ich den gesuchten Felsen erreichen würde. Mit dem neuntausendsten Schritt kam ich an das Versteck und erlaubte mir, die runde Zahl als gutes Omen zu sehen, da ich die Neun als meine Glückszahl wähnte. Ohne Schwierigkeiten fand ich das Ding unter den Steinen, steckte es in das mitgebrachte Angelrutenfutteral und befestigte es mit den Schlaufen an der Außenseite des Rucksacks. Bildete ich mir das ein, oder war das Summen lauter geworden? Selbst durch den festen Leinenstoff hindurch konnte ich es hören. Nach kurzem Nachdenken erklärte ich mir das lautere Summen damit, dass es heute wesentlich ruhiger war, als an dem Tag, an dem ich es entdeckt hatte. Der Wind und der Schneefall hatten inzwischen meine Spuren überdeckt, sodass sie nur noch ansatzweise zu erkennen waren.
Elftausendneunzehn …
Elftausendzwanzig …
Bei ›Elftausendeinundzwanzig‹ brach mein linker Schneeschuh. Sofort sackte ich mit dem Bein bis zum Oberschenkel ein. Ich ließ mich mit ausgebreiteten Armen auf den Rücken fallen, um ein tieferes Einsinken zu verhindern. Brennendes Ziehen schoss von der Leiste bis in mein Gehirn und ich stieß einen heiseren Fluch aus.
»Verdammter Scheißdreck!«
***
Aus dem Brautkleid ist ein Leichentuch geworden. Mich eng an der Felswand haltend, setze ich vorsichtig Fuß vor Fuß. Zu oft bin ich in den letzten Stunden eingesunken, in bodenlose Schneemassen, bin ausgerutscht auf überfrorenen Steinen, habe mir Hände, Ellbogen und Knie aufgeschlagen. Die Erschöpfung kriecht wie ein Wurm, der sich von meinem Willen ernährt, durch meine Gehirnwindungen. Ich würde mich gern hinsetzen, ein wenig ausruhen, aber mir ist klar, dass das mein Tod wäre.
»Weiter! Beweg' dich!«, feuere ich mich an.
Stöhnend zwinge ich mich zu den nächsten Schritten. Das Zählen habe ich längst aufgegeben. An manchen Stellen rutsche ich zwei Meter zurück, wenn ich dem Berg einen quälenden Meter abgerungen habe. Der Schmerz zeichnet blitzende, rotierende Farbspiralen in mein Blickfeld, die je nach Intensität von Orange über Rot in ein dunkles Lila wechseln.
Die Felsen weichen nach rechts zurück. Hier irgendwo muss die Hütte sein. Ich lasse mich auf die Knie sinken und warte ab, bis sich die Lichtorgel auf meiner Netzhaut beruhigt. Angestrengt versuche ich den Einschnitt in der Wand zu erspähen, in den sich das rettende Bauwerk schmiegt.
Keine zehn Meter vor mir schimmert Metall. Ich bin gerettet! Die Aussicht auf Wärme und Trockenheit verleiht mir neue Kräfte, ich erreiche die Stahltür und drücke sie auf.
Dunkelheit und der Geruch von Holz begrüßen mich. Den Rucksack von den steifen Schultern zu nehmen, ist ein peinvolles Erlebnis. Ich stelle ihn an die Tür, um sie offen zu halten und suche nach der Beleuchtung. Im einzigen Schrank finde ich eine Gaslampe und ein Stabfeuerzeug. Beides funktioniert und Helligkeit nimmt vom Innenraum Besitz. Ein kleiner Holzofen steht in einer Ecke, auf der anderen Seite warten eine Klapp-Pritsche und einige Decken darauf, benutzt zu werden. Im Schrank befinden sich Gaskartuschen und ein Verbandskasten sowie verschiedene Konserven. An der Wand daneben hängt ein Regal mit zwei Töpfen, Tellern und unübersehbar, das rote Nottelefon. Es raschelt und knistert, als ich den Hörer abnehme. Nach einigen Augenblicken ertönt ein Rauschen, das von einer undeutlichen Stimme durchbrochen wird.
»Bergwacht
Weitere Kostenlose Bücher