BRAINFUCK
nahegelegt, ihrerseits über eine mögliche Organspende nachzudenken. Schließlich befanden sich die meisten Organe ihrer Tochter in einem guten Zustand und konnten Leben retten, wenn man sie verpflanzte. Sie sprach mit Kathi darüber. Das Kind schien mit seinem bevorstehenden Ableben erstaunlich gut umgehen zu können und legte einen Fatalismus an den Tag, der alle Beteiligten verwunderte.
»Das ist eine gute Idee Mama«, hatte sie gesagt. »Ich brauche die Organe ja nicht mehr, wenn ich tot bin.«
Schweren Herzens, den Wunsch ihrer Tochter respektierend, hatte sie die nötigen Formulare ausgefüllt und einer Organentnahme zugestimmt. Sie verfluchte den angeborenen Herzfehler ihrer Tochter; er war erblich, hatte ihr erst den Ehemann genommen und nahm ihr jetzt das Kind.
Mir wäre lieber, ich würde … Frau Wimmer saß zusammengesunken am Bett ihres Kindes und nichts hatte sie in den letzten drei Tagen bewegen können, diesen Platz zu verlassen. Sie schlief sitzend einen oberflächlichen Schlaf, wenn Kathi schlief. Die Schwestern hatten sie kurzerhand auf die Verpflegungsliste gesetzt, als sie merkten, dass sie ihre Tochter nicht alleine lassen würde.
»Mama …« Die leise Stimme von Kathi riss sie aus ihren düsteren Betrachtungen.
»Ja Schatz, ich bin hier.«
»Mama, ich glaube, ich muss jetzt gehen.«
Frau Wimmer griff nach der Notklingel und presste ihren Daumen auf den Knopf.
*
Um 0:31 Uhr stellte der Stationsarzt den Tod des Mädchens fest und rief einen Kollegen aus der Nachtbereitschaft, um eine zweite Bestätigung zu erhalten.
***
Ein schmerzhaftes Ziehen war das Erste, das Andrian Grether registrierte. Ich lebe noch , stellte er fest, sonst könnte ich nicht fühlen .
Allerdings war bis jetzt noch niemand zurückgekommen, um zu berichten, ob man nach dem Tod Schmerzen empfinden konnte. Sollte der Mensch eine Seele haben, war es vorstellbar, dass sie Gefühle empfand. Woher kamen Phrasen wie ›Das tut mir in der Seele weh‹, wenn nicht aus einem Kollektivwissen der Menschheit über solche Dinge?
Er unterbrach seine philosophischen Betrachtungen über das Sterben und seine Folgen und widmete sich dem Prozess des Erwachens. Die Umgebungsgeräusche verrieten ihm, dass er sich auf der Intensivstation befinden musste. Den Schmerz lokalisierte er im Rückenbereich und stufte ihn als erträglich ein. Andrian schlug die Augen auf. Er hatte sich nicht getäuscht. Um ihn standen medizinische Geräte, die er nicht alle zweifelsfrei zuordnen konnte. Vorsichtig erkundete er seine Muskeln und Knochen – alles schien an seinem Platz zu sein. Jetzt galt es herauszufinden, ob sich das Ersatzteil an seinem neuen Platz befand. Er suchte den Drücker für die Notklingel, entdeckte ihn neben seiner rechten Hand liegend und betätigte ihn.
*
»Ah, Herr Grether, Sie sind wach. Schön! Ich werde gleich den Doktor rufen, damit er nach Ihnen sehen kann«, begrüßte ihn der Pfleger und verließ nach einem kurzen Blick auf die Monitore den Raum.
Das gleichmäßige Piepen des Herzmonitors und die rhythmischen Zischgeräusche eines Beatmungsgeräts, die vom Nachbarbett her erklangen, wirkten einschläfernd. Andrian sank in einen oberflächlichen Schlummerzustand.
*
Es ist dunkel. Wo bin ich? Mama?
*
Eine Berührung am Handgelenk beförderte ihn zurück an die Oberfläche der Realität.
»Wie fühlen Sie sich?« Die Stimme des Arztes klang weich und leise.
»Ich könnte Bonsais ausreißen und Regenwürmer erwürgen«, gab Andrian Auskunft und wunderte sich über die knarrenden Töne, die seine Stimmbänder produzierten.
»Die Operation war erfolgreich. Ihre neue Niere sitzt dort, wo sie hingehört und alle Werte sind im grünen Bereich«, erklärte Doktor Schwarz unaufgefordert und lächelte breit.
»Ich kann Ihnen versichern, dass mich das ausgesprochen fröhlich stimmt«, kommentierte Andrian diese Auskunft und lächelte zurück.
Endlich! , dachte er. Endlich muss ich nicht mehr alle paar Tage zur Dialyse. Endlich kann ich mit den dreckigen kleinen Gören länger Spaß haben als nur wenige Stunden. Sein Lächeln verstärkte sich.
»Freut mich, dass Sie so gut gelaunt sind, Herr Grether. Das beschleunigt erfahrungsgemäß den Heilungsverlauf.« Der Arzt verfiel der irrigen Annahme, seine gute Nachricht sei für den positiven Gemütszustand seines Patienten verantwortlich und ließ sich von dessen Laune anstecken. »Ich nehme Ihnen gleich noch Blut fürs Labor ab, anschließend können Sie
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