BRAINFUCK
Kifferin riss sich von der Betrachtung des Geschehens los und zeigte ihre Fahrkarte vor. Mit einem Nicken nahm die Prüferin den Fahrschein zur Kenntnis und schlenderte in den hinteren Teil des Busses. Der blauäugige Junge hatte seine Fahrkarte zu einem Röllchen gedreht und begann sie aufzurollen, während Lily ihre Monatskarte hochhielt.
Die Frau murmelte ein »Danke« und gesellte sich zu ihrer Kollegin, die geduldig dem Grauhaarigen zusah, wie er seine Taschen umdrehte.
»Die haben Sie aber gut versteckt«, bemerkte sie mit einem Lächeln.
Der Angesprochene schien daran nichts Lustiges zu finden.
»Jetzt hetzen Sie mich doch nicht so!« Er legte seinen Mantel zur Seite und öffnete die Aktentasche. Die Frauen warfen sich einen wissenden Blick zu.
»Hören Sie«, begann die kleinere der beiden, »wenn Sie keine Fahrkarte besitzen, ist das nicht weiter schlimm. Sie zahlen vierzig Euro und der Fall ist erledigt.«
Der Mann unterbrach seine Suche. Die Blondine kicherte leise und schob den Kopfhörer in den Nacken.
»Was wollen Sie damit sagen? Halten Sie mich für einen Schwarzfahrer?« Die Stimme des Aktentaschenbesitzers klang gereizt. Er setzte sich noch aufrechter.
Lily spürte, wie Neugierde in ihr aufstieg. Diese Szene wollte sie gern bis zum Ende verfolgen, was unmöglich war. An der nächsten Station musste sie aussteigen. Auch der schwarz gekleidete Junge beobachtete, was dort vorne vorging.
Die Diskussion schien zu entgleisen. Deutlich waren Worte wie »Dienstaufsichtsbeschwerde« und »Willkür« zu verstehen. Die Prüferinnen gaben sich Mühe, beschwichtigend zu wirken, aber das fruchtete nicht.
Der Jüngling glitt leichtfüßig von seinem Platz. Lily befürchtete, er wolle sich einmischen und das Chaos noch vergrößern, doch er steuerte zielsicher den Betrunkenen an und setzte sich geschmeidig neben ihn. Die Blonde hing mit beiden Armen über der Lehne vor ihrem Sitz und gaffte ungeniert. Die Kontrolleurinnen beschäftigten sich mit dem Anzugträger und dieser sich mit ihnen. Der Junge zwinkerte Lily verschwörerisch zu.
»Scheiße, will der den beklauen?«, flüsterte sie, während sie nach dem Halteknopf tastete.
Daran schien er nicht zu denken. Er schob die Kapuze des Trinkers zur Seite, öffnete den Mund, beugte sich über ihn und …
*
Der Bus verlangsamte. Lily schüttelte die Schreckstarre ab und zwang sich aufzustehen. Er hat den Penner gebissen! In den Hals! Sie wollte es hinausschreien, aber ihre Stimme verweigerte den Dienst. Der Bus hielt, zischend öffneten sich die Türen.
»Ich rufe jetzt die Polizei! Sie steigen mit uns an der nächsten Haltestelle aus!« Wie durch eine Watteschicht hindurch drangen die Worte der Streitenden an Lilys Ohren.
Der Junge sah ihr ins Gesicht, seine Augen blitzten. Er grinste breit. Mit der Zungenspitze leckte er sich einen Blutstropfen von der Oberlippe.
Lily riss ihre Einkäufe an sich und stürzte zur Tür. Die Nachtkälte empfing sie. Es schneite. Sie hasste die Kälte. In diesem Augenblick erschien sie ihr jedoch wie eine sichere Zuflucht. Dort drin, in der Wärme, war er … es …
Sie stolperte über die Straße, der Rucksack schlug ihr schmerzhaft gegen die Unterschenkel. Ohne stehen zu bleiben, warf sie ihn über und zwängte die Arme in die Träger. Was zur Hölle war das gewesen? Es gab keine Vampire! Hatte sich der Kerl einen grausamen Scherz erlaubt?
Sie verlangsamte ihr Tempo. Das war die Lösung: Ein schlechter Scherz! Wie hatte sie sich dermaßen erschrecken lassen können? Es war Karneval, da kamen die Leute auf die dümmsten Ideen. Und sie fiel auf so was herein!
»Lily, du bist ein Dummerle!«, schalt sie sich flüsternd.
Ihre Schulter schmerzte. Sie griff zum Tragegurt des Rucksacks und stellte fest, dass er verdreht war. Unter der nächsten Straßenlaterne stoppte sie und versuchte den Gurt gerade zu richten. Leise Schritte knirschten im frisch gefallenen Schnee hinter ihr.
»Kann ich dir helfen?«
Stadtlicht
„Ein Kopf ohne Gedächtnis ist eine Festung ohne Besatzung.“
(Napoleon)
Mein Gehirn zündet ein erstes Flämmchen des Erwachens. Die Augen zu öffnen, wäre die nächste logische Handlung. Bei der Vorstellung, wie das Licht meine Kopfschmerzen verstärken würde, zögere ich.
Die Lider einen Spalt öffnend, versuche ich, etwas von meiner Umgebung zu erkennen. Blendende Helligkeit jagt ein Hämmern durch meinen Schädel. Es dauert eine scheinbare Ewigkeit, bis ich klare Bilder erkenne: Bäume; ein
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