Brainspam: Aufzeichnungen aus dem Königreich der Idiotie
Erwins Mischung mit der Geschwindigkeit eines unseligen
Intercity in die entlegensten Winkel meines Nervensystems.
Ich fühlte, wie meine Trommelfelle mit einer Art zähem Tau
beschlugen; Erwins Altmännermund formte Worte, die unhörbar waren, aber wie
»Verträgt nix – wie ein Mädchen« aussahen.
Dann sah ich meinen eigenen Körper von der Zimmerdecke aus:
Tatsächlich, ich leuchtete so farbig wie die Wohnwagenlampe einer holländischen
Prostituierten, und meine Oma war dabei, mir Klosterfrau Melissengeist in den
Nacken zu reiben – als Unterfangen so sinnvoll, als würde man versuchen, mit
einem Kaffeelöffel den Grundwasserspiegel abzusenken.
Ich kehrte in meinen Körper zurück, um festzustellen, dass
sich mein Magen ausreichend übersäuert hatte, um einem Tieflader als Batterie
zu dienen, und kreischte auf.
»Das war was, hm? Noch einen?«, fragte Erwin.
»Nur über meine Leiche«, erwiderte ich unter gemeinsten
Schmerzen.
»Lass den Jungen mal ausruhen«, kam Astrid mir zu Hilfe, und
ich schwor mir, eine Plakette aus Salzteig anzufertigen, die ihr Gesicht als
Heilige darstellte.
Ich riskierte einen Blick zu den benachbarten Körperwelten,
und kam zu dem Schluss, dass wenn die beiden sich amüsierten, dieser komplexe
emotionale Vorgang ausschließlich unter ihrer Haut stattfand.
»Is’ bald soweit«, warf Polenwerner ein.
»Jou.«
Erwin verschwand erneut und kehrte mit einem Eimer und
einigen bunten Tütchen zurück.
Er fummelte die Beutel auf, holte eine kleine Broschüre aus
der Tasche seiner Strickjacke und stellte eine Stumpenkerze auf, die ehemals
die Form eines Engels gehabt haben musste, durch einige Stunden unter Flammen
aber nun aussah wie ein dämonischer Wellensittich.
»Schön. Bleigießen«, entfuhr es Oma, und ich nickte, da ich
das Gefahrenpotenzial als gering einstufen konnte.
Wir hatten noch zwanzig Minuten.
Erwin erhitzte etwas Blei, indem er es auf einen Löffel
legte und über der Kerzenflamme schwenkte, und wir andern taten es ihm nach.
Währenddessen betete ich, dass kein Streifenwagen am Fenster
vorbeifuhr, um dann unsere Silhouetten zu erhaschen, die buckelig und
verschroben um einen Tisch hockten und Löffel über eine Kerze hielten. Ich bin
mir ziemlich sicher, dass dann ein schlechtgelauntes Sondereinsatzkommando die
Tür eingetreten hätte, um sich ein Bild zu machen, ob da wohl einige Junkies
auf ihre guten Vorsätze pfiffen.
Nach einigen Minuten konzentrierten Bleischmelzens warf
Erwin sein Blei in den Eimer, und ein Zischen stieg auf.
Der Ablauf war mir klar: Man versenkte flüssiges Blei im
kalten Wasser, und die geronnenen Figuren wurden anhand einer Broschüre
auseinanderklamüsert und bestimmt; ein launiges Vergnügen, um einen
orakelhaften Blick ins neue Jahr zu werfen.
Erwin langte in den Eimer und holte sein Stück hervor.
Es sah aus wie der Glöckner von Notre Dame im Kimono, von
schräg unten betrachtet.
»Was soll das bedeuten«, fragte Erwin und begann zu
blättern, fand aber nichts.
»Wenn du weiter Bademäntel trägst, kriegst du nächstes Jahr
Hautkrebs«, schlug Polenwerner vor.
»Quatsch«, blaffte Erwin, noch immer bemüht, seine Figur zu
deuten und ihr einen positiven Drall zu verpassen.
»Die Mainzelmännchen werden abgeschafft!« rief Astrid. »Das
muss es sein.«
»Humbug!«
»Dann versuch’s halt noch mal«, schlug ich vor.
»Das ist ein fauler Trick. Gibt’s nicht«, erwiderte Erwin.
Familie Körperwelten senkte die Löffel ab.
Ihre erkaltete Form war absolut rund. Eine Kugel.
»Nierensteine«, schrie Onkel Erwin.
»Steht das in dem Heftchen?«, fragte Astrid.
»Nee. Das sieht man ja wohl.«
Mein Bleiklumpen brachte etwas ans Licht, das wirklich alles
sein konnte: Der Umriss von Fuerteventura, die unerträgliche Leichtigkeit des
Seins, ein Klecks Bohnerwachs oder das Ende des Universums, wie wir es kennen.
»Du holst dir Sackratten«, triumphierte Erwin, ohne die
Broschüre eines Blickes zu würdigen.
So verbrachten wir entspannte neunzehn Minuten, in denen wir
uns gegenseitig die Pest an den Hals prophezeiten.
»Noch eine Minute!« rief Oma.
»Erwin«, flüsterte ich.
»Was denn?«
»Dein Ehepaar hier«, raunte ich, »die bewegen sich schon
geraume Zeit nicht mehr. Weißt du, was ich glaube?«
»Was? Schnell. Noch zwanzig Sekunden.«
»Ich glaube jetzt einfach mal, die sind tot.«
»Blödsinn«, entgegnete Erwin mit einem Blick auf die Uhr,
»die sind so.«
Dann erklangen zwölf Schläge aus Erwins Uhr, die
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