Brandbücher - Kriminalroman
überall in Deutschland diese merkwürdige Schrift benutzt worden war.
Da! Na, wenigstens ist das Datum in normalen Zahlen geschrieben!, dachte Karina erleichtert. »8. Mai 1933!«, las sie leise. »Wenn ich in Geschichte besser aufgepasst hätte«, ärgerte sie sich, »dann wüsste ich, was damals in Deutschland los war. Auf jeden Fall war Hitler schon an der Macht. Aber wann haben die Judenverfolgungen begonnen?« Sie kämpfte mit sich, ob sie Jenny wecken sollte. Die hatte schließlich erklärt, sie hätte gerade erst ein Buch über das Dritte Reich gelesen.
Während Karina mit sich kämpfte, ob sie ihre Freundin aufwecken sollte oder nicht, wurde ihr die Entscheidung abgenommen. Das Telefon läutete so laut, wie nur die alten Apparate mit ihren zusätzlichen Verstärkern für die Klingel läuten konnten. Und diese zusätzliche Klingel war ausgerechnet in der guten Stube angebracht, in der Jenny schlief. Geschlafen hatte, besser gesagt. Als Karina den Hörer abnahm, wusste sie nicht, wem sie zuhören sollte: ihrer Freundin, dessen Stimme wütend und verschlafen klang, oder Pfarrer Martin Kleine, der sich noch zorniger anhörte.
*
Nach seinem letzten Besuch in der Buchhandlung hatte Samuel Bruno ein einziges Mal gesehen. An dem Tag, an dem der Fahrer ihn abholte. Mitten in der Woche. Am 14. Februar. Der 14. und der letzte eines Monats waren Umzugstage, das hatte Samuel bereits mitbekommen. Nur am Monatsanfang und zur Monatsmitte hätte er ein neues Zimmer beziehen können. Er hatte selbst mehrfach versucht, ein preiswerteres Zimmer zu finden, seitdem Brunos Vater angedeutet hatte, dass er demnächst seine Spitzeldienste nicht mehr benötigte. Wann immer Samuel eine Haustür geöffnet wurde, wurde sie mit den Worten: »Das Zimmer ist bereits vergeben!« sofort wieder geschlossen. Anfangs dachte Samuel, es läge daran, dass er die Aushänge immer zu spät fand. Doch dann hörte er, dass ein Kommilitone genau das Zimmer bekommen hatte, das man ihm verwehrt hatte – obwohl er erst zwei Tage später vorstellig geworden war.
»Wohin ziehst du?«, wollte Samuel von Bruno wissen, der nicht nur den Kleiderkoffer, sondern auch eine Kiste voller Bücher an ihm vorbeizerrte. Auch die alte Schreibmaschine, die Bruno von seinem Vater fürs Studium erhalten und die er ihm bereitwillig ausgeliehen hatte, trug er an Samuel vorbei.
»Es tut mir leid, da musst du deine Arbeiten wohl wieder mit der Hand schreiben!« Die Art, in der Bruno diesen Satz sagte, versetzte Samuel einen Stich. Er wusste sofort, dass dies unwiderruflich das Ende ihrer Freundschaft bedeutete und fragte sich augenblicklich, was sie überhaupt verbunden hatte. War er nicht nur ein nützlicher Kamerad für Bruno gewesen?
Samuel blieb in der Tür seines Zimmers stehen, als wollte er sich damit quälen, dass sein Vielleicht-Freund ging und ihn seinem Schicksal überließ. Wie sollte er ohne die Schreibmaschine eine ordentliche Arbeit abgeben? Dass das sein kleinstes Problem war, bemerkte Samuel erst, als der Zimmerwirt vor ihm stand.
»Wann werden Ihre Sachen abgeholt?«, wollte er wissen und sah Samuel durch diese seltsame Halbbrille an, die Bruno immer Brille am Stiel nannte. »Sie wissen ja, dass heute der letzte ist! Bis heute Abend um 20 Uhr müssen Sie Ihr Zimmer geräumt haben!«, sagte der Vermieter so laut, dass Samuel sich umsah, ob außer ihm jemand im Flur stand.
»A-aber ich habe mein Zimmer gar nicht gekündigt!«, stammelte Samuel und winkte Bruno nach, der sich mit einem »Bin weg« an ihm vorbeigeschlichen hatte. Auf halber Treppe fiel etwas aus dem Papierstapel, den Bruno unter dem Arm hielt.
Samuel sprang hinterher und griff danach. Gleichzeitig ging Bruno in die Hocke, um das dünne rote Heftchen mit dem Reichsadler darauf aufzuheben.
Samuel musste nicht fragen, er wusste auch so, was das war. Das Hakenkreuz sagte alles. Er schlug es dennoch auf. »Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei«, las er. »Mitgliedsbuch für Bruno Schulze-Möllering. Stand oder Beruf. Cand. Theol.« Mehr musste er nicht lesen. »Seit wann?«, brach es aus ihm heraus, doch Bruno beachtete ihn nicht. Er nahm Samuel das Heft aus der Hand, drehte sich um und ging wortlos die Treppe herunter.
Samuel starrte ihm nach. Vom Treppenabsatz über ihm erklang scharf die Stimme des Zimmerwirts. »Es tut mir leid! Kollege Schulze-Möllering hat das Zimmer gekündigt. Ich habe Sie ohnehin nur ihm zuliebe aufgenommen. Ich muss an mich und meine Familie denken.«
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