Brandbücher - Kriminalroman
an.«
Samuel blickte nach unten, er spürte, wie alle ihn anstarrten und bereute, dass er nicht auf Daniel gehört hatte.
Brunos Litanei nahm kein Ende. »Fünftens. Der Jude kann nur jüdisch denken. Schreibt er deutsch, dann lügt er. Der Deutsche, der deutsch schreibt, aber undeutsch denkt, ist ein Verräter. Der Student, der undeutsch spricht und schreibt, ist außerdem gedankenlos und wird seiner Aufgabe untreu*«, zitierte er weiter, während er eine Hand zum Hitlergruß erhob.
Hinter sich hörte Samuel, wie die Sitzbänke nach oben klappten. Er versuchte unter seiner Achsel hindurch in den Hörsaal zu sehen. Mehrere Studenten standen mit ausgestrecktem Arm, als wollten sie jeden Moment »Heil Hitler« rufen. Stattdessen schrien sie inzwischen wie Brunos Begleiter: »Jawohl. So isses.« Die wenigen Studenten, die immer noch saßen, versuchten, sich wie Samuel unsichtbar zu machen oder unauffällig aus der Bank zu schleichen.
Als Bruno zur sechsten These ansetzte, beschloss Samuel, sich das nicht weiter anzuhören. Auch, um sich zu retten. Wer wusste, was geschah, wenn alle Kommilitonen aufgepeitscht von Brunos Rede aus dem Saal wollten.
»Hiergeblieben!«, brüllte Bruno, als Samuel den Saal verlassen wollte. In diesem Augenblick sah er, wie der Professor durch die hintere Tür verschwand und er war nicht der Einzige, der das bemerkte.
»Der Professor haut ab!«, rief jemand aus der hinteren Reihe.
Bruno drehte sich um, seine Begleiter liefen dem Professor hinterher.
Samuel nutzte die Gelegenheit und rannte, so schnell er konnte, aus dem Saal. Bis Bruno und seine Braunhemden bemerkten, dass er weg war, hatte er einen guten Vorsprung. Inzwischen kannte er alle versteckten Gänge und Kammern, in denen er warten konnte, bis sich die Lage wieder beruhigt hatte. Er rang nach Luft, als er einen der dunklen Keller erreichte.
Der Keller lag direkt unter dem Haupteingang. Und weil ein anderer Student dort oben stand und die Thesen verkündete, obwohl sie für jeden sichtbar angeschlagen waren, musste sich Samuel alles erneut anhören. Er versuchte sich die Ohren zuzuhalten, doch die Stimme hallte durch den Raum. Von überall her sprangen ihn die Sätze an, von denen er wusste, dass sie das Ende bedeuteten. Danach würde nie wieder etwas wie vorher sein.
»Sechstens: Wir wollen die Lüge ausmerzen, wir wollen den Verrat brandmarken, wir wollen für den Studenten nicht Stätten der Gedankenlosigkeit, sondern der Zucht und der politischen Erziehung. Siebtens: Wir wollen den Juden als Fremdling achten und wir wollen das Volkstum ernst nehmen. Wir fordern deshalb von der Zensur: Jüdische Werke erscheinen in hebräischer Sprache. Erscheinen sie in Deutsch, sind sie als Übersetzung zu kennzeichnen. Schärfstes Einschreiten gegen den Missbrauch der deutschen Schrift. Deutsche Schrift steht nur Deutschen zur Verfügung. Der undeutsche Geist wird aus öffentlichen Büchereien ausgemerzt. Achtens: Wir fordern vom deutschen Studenten Wille und Fähigkeit zur selbständigen Erkenntnis und Entscheidung. Neuntens: Wir fordern vom deutschen Studenten den Willen und die Fähigkeit zur Reinerhaltung der deutschen Sprache. Zehntens: Wir fordern vom deutschen Studenten den Willen und die Fähigkeit zur Überwindung jüdischen Intellektualismus und der damit verbundenen liberalen Verfallserscheinungen im deutschen Geistesleben.*«
Die letzten beiden Thesen hörte Samuel nicht mehr, er hatte sich in der Ecke des dunklen, feuchten Unikellers in den Schlaf geweint.
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Herr Weizm a nn ist wieder zu Hause. Aber er kann nicht in den Laden gehen. Er ist so schwach. Ich glaube, sie haben ihn im Gefängnis geschlagen. Er sagte nur einen Satz: »Es ist besser, wenn du nicht mehr kommst, Katharina.« Den wiederholt er jeden Tag. Aber ich kann ihn doch nicht im Stich lassen. Samuel gibt sich ja viel Mühe, aber er kann nicht kochen und ordentlich ist er auch nicht. Manchmal schicken die beiden mich aus der Stube, dann höre ich, wie Herr Weizmann stöhnt. Anschließend kommt Samuel mit blutigen Verbänden aus dem Zimmer.
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Als ich heute Morgen bei Weizmanns ankam, stand an der Wand ne b en der Haustür in großen Buchstaben ›Jude‹. Was soll das? Ich verstehe nicht, warum ausgerechnet die Juden an allem schuld sein sollen. Herr Weizmann nimmt doch keinem Arbeit weg. Sogar ein Schaufenster haben sie kaputt geschmissen. Samuel und ich haben es mit Zeitungspapier zugeklebt. Ich habe versucht, jemanden zu finden, der
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