Brandbücher - Kriminalroman
wie ein Messer, das selbst Gefrorenes zerschneiden konnte. »Wieso bist du eigentlich noch hier, Jude? Ich bin sicher, dass ich dich ganz oben auf der Liste der Professoren gesehen habe, von denen die Uni dringend gereinigt werden muss.« Samuel sah mit Entsetzen, dass Bruno vor Professor Feinstein, der äußerlich ruhig mitten im Flur stehen geblieben war, auf den Boden spuckte. Keiner rührte sich. Samuel erschrak beim Anblick des Professors, der in den letzten Wochen fast alle Haare verloren hatte.
Eine Glocke erklang. Die Glocke des Münsteraner Doms, die die zehnte Stunde schlug. Als ob alle in dem Flur versteinert gewesen wären, setzte wieder hektische Betriebsamkeit ein. Samuel huschte hinter dem Professor in den Hörsaal. Er sah sich um. Bruno war bereits auf dem Weg in sein Theologieseminar, er blieb kurz stehen und schaute zurück. Ihre Blicke kreuzten sich wie zwei Degen vor Beginn eines Zweikampfs. Aber jeder wusste, wer als Sieger hervorgehen würde.
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Ich war allein im Laden, als sie k a men. Herr Weizmann machte Besorgungen und Samuel war weg. Er ist oft unterwegs. Herr Weizmann versucht herauszubekommen, was er den ganzen Tag macht, seit er wieder zu Hause wohnt. Samuel behauptet, er würde frühmorgens nach Münster fahren und studieren. Aber ich sehe Herrn Weizmann an, dass er das nicht glaubt.
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»Wo sind die Bücher?«, hat Bruno, der Sohn vom Doktor, mich angeschnauzt. An den Doktor darf ich nicht denken, dann muss ich mich überge b en. Immer, wenn er mich trifft, fasst er mich an und sagt: »Da ist noch eine Rechnung offen, Katharina.« Ich weiß genau, dass er von dem Tag redet, als Herr Weizmann krank war. Ich weiß auch, was er von mir will. Es wäre nicht das erste Mal, dass er das versucht. Und Bruno. Der ist auch nicht besser.
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»Da!«, habe ich leise geantwortet, um Bruno nicht zu ärgern. Ich weiß ja, wozu er in der Lage ist. Die Regale standen do c h voller Bücher. Er ging darauf zu und riss eins nach dem anderen heraus. Eins warf er mir sogar an den Kopf: »Ferien vom Ich«, las ich. »Das sind nicht die richtigen Bücher«, schrie er und kam auf mich zu. Er schüttelte mich. »Wo sind die anderen Bücher?« Er stieß mich beiseite und trat gegen die Tür zum hinteren Raum, die seit einiger Zeit verschlossen ist. Doch ehe er sie aufgebrochen hatte, kam Berta in den Laden. Ich war richtig froh. »Wat is dann hier loss?«, fragte sie. Bruno verließ den Laden, ohne uns anzusehen.
Martin hatte Karina eingeladen, bei ihm zu wohnen, weil sie sich nach dem Einbruch in dem abgeschiedenen Haus nicht mehr sicher fühlte. Die Frage, wer bei ihr eingebrochen war, ließ ihr keine Ruhe, sie nagte an ihr, auch wenn sie sich mit Feuereifer auf die neuen Informationen stürzte, die sie von Jonathan Weizmann bekommen hatte. Es war nicht leicht gewesen, seinem schnellen Redefluss zu folgen. Karinas Auslandssemester in den USA kam ihr zugute.
»Stellen Sie sich vor, dank meiner Tante konnten die Weizmanns nach Amerika fliehen und sich dort ein neues Leben aufbauen«, erzählte Karina Elisabeth Oenning und Josefa Reinermann, die ihrer Einladung zu einem Kaffeeklatsch gefolgt waren.
Karina hatte die beiden eingeladen, weil sie die Einzigen waren, die sich gut an die Zeit erinnern konnten und wollten. Freimütig hatten sie bekannt, dass auch sie im Frauenbund der Nationalsozialisten waren wie fast alle Frauen zu der Zeit.
»Ich hätte gerne eine Ausbildung zur Schneiderin gemacht«, vertraute Elisabeth Oenning Karina an. »Aber eine Ausbildung kam für ein Mädchen aus meinem Stand gar nicht infrage. Wir wurden in den Haushalt einer reichen Familie geschickt und gut war es.« Sie lächelte schelmisch und drohte Josefa Reinermann mit dem Finger. »Wehe, du verrätst das. Ich hatte ein Auge auf den jungen Anwalt geworfen und er fand mich wohl auch ganz schmuck.«
Karina lächelte bei dem Wort ›schmuck‹, das ihr bisher nie begegnet war und dennoch war ihr gleich klar, was es bedeutete. Erstaunlich, welche Wörter in den fast hundert Jahren verloren gegangen sind, dachte sie und lauschte dem leisen Geplänkel der beiden Frauen.
»Soll ich erzählen, wie es weiterging?« Karina hörte den beiden zwar gerne zu, aber die Geschichte ihrer Tante war für sie nach wie vor nicht geklärt, selbst nach dem Telefonat mit dem Urenkel Jakob Weizmanns nicht. »Tante Katharina, also meine Großtante meine ich, hat damals Geld beschafft für die Fahrt«, berichtete
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