Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
des Schicksals. Eine, die im vergangenen Sommer vor den Altar der Inselkirche geführt hatte.
»Hereinspaziert, mein Lieber!« Mit ausholender Geste bat der Professor ihn ins Haus, als Pieplow Punkt halb vier klingelte. »Schön, Sie wieder einmal zu sehen. Auch wenn der Grund Ihres Besuchs nicht gerade erfreulich ist.« Er führte Pieplow in ein geräumiges
Wohnzimmer, wies auf einen Sofaplatz am gedeckten Kaffeetisch und setzte sich ihm gegenüber in einen Sessel. Das Kaminfeuer hinter ihm erleuchtete seinen weißen Haarkranz. »Meine Frau hat uns ihren köstlichen Apfelkuchen gebacken. Sie hat sogar noch Schlagsahne in der Kaufhalle ergattert, bevor es keine mehr gab. Ganz wie in alten Zeiten sozusagen.«
Pieplow dankte für Apfelkuchen und Kaffee und schielte nach dem Stapel Papier neben der Zuckerdose, auf den der Professor die Fingerspitzen seiner gespreizten Hand legte.
»Wie Sie sehen, mein Guter, konnte ich mich, dem technischen Fortschritt sei Dank, noch einmal mit den Details des Falles befassen. Meine Mitarbeiterin war so reizend, den Bericht herauszusuchen und mir elektronisch zu übermitteln. Bevor wir in medias res gehen, verraten Sie mir zunächst aber, ob die Neugier an sich oder noch etwas anderes Ihr Interesse an meiner Arbeit geweckt hat.«
Pieplow erzählte es ihm.
»Das ist in der Tat interessant«, entgegnete der Professor und goss sich Kaffee nach. »Auch wenn ich, ehrlich gesagt, keine große Bereitschaft spüre, diesem Thiel Glauben zu schenken … Aber wie dem auch sei – es ist ja grundsätzlich richtig, Fragen zu stellen. Die offene Frage als Grundlage allen Forschens, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Pieplow glaubte zu verstehen und wartete darauf, dass der Professor zum Eigentlichen kam.
»Nun ja, am besten schildere ich Ihnen zunächst die Ausgangssituation. Als wir am 31. Juli 1994 kurz nach sechs Uhr morgens am Tatort eintrafen, war die Situation vor Ort mehr als unbefriedigend. Das Opfer war vom Fundort wegbewegt worden, in der Eile der Rettungsmaßnahmen waren die Stichwunden unbeachtet geblieben. Man hatte die junge Frau aus dem Haus gezogen, sie sofort auf den Rücken gelegt und ihr bei Wiederbelebungsversuchen mehrere Rippen gebrochen. Überall waren Spuren der Retter, das Haus wies massive Brandschäden auf, das Löschwasser hatte ein Übriges getan, um wertvolle Spuren zu vernichten. Trotzdem ließ sich der Tathergang erfreulich genau rekonstruieren. Das Opfer wurde gegen zwei Uhr niedergestochen, konnte sich im Verlauf der nächsten Stunde noch bis zur Haustür schleppen, hat dort aber das Bewusstsein verloren und ist etwa zwischen zwei und drei Uhr am Morgen des 31. Juli verstorben.« Der Professor nahm sich ein weiteres Stück Kuchen, das er mit einer beachtlichen Sahnehaube krönte. »Essen ist die Erotik des Alters, mein lieber Pieplow. Das werden Sie auch noch erfahren«, sagte er vergnügt.
»Dann ist sie also nicht an den Stichverletzungen gestorben?«
Der Professor schenkte sich Kaffee nach. Dass Pieplow aufs Thema zurückkam, schien die Hingabe an die Alterserotik in keiner Weise zu stören.
»Sie sagen es.« Dahlke stach mit der Kuchengabel in die Luft über dem Kaffeetisch. »Sie ist erstickt. Wie die
meisten Brandopfer übrigens. Wobei man sagen muss, dass sie selbst bei günstigerem Verlauf der Ereignisse wohl nicht überlebt hätte. Der Stich hatte den rechten Lungenflügel verletzt und massive Einblutungen in den Brustkorb verursacht.«
»Nur ein einziger Stich?«
»Interessant, nicht wahr? Nur ein Stich, ausgeführt von einer etwa einsfünfundachtzig großen Person. Im Allgemeinen führen Affekttaten zu Mehrfachverletzungen, also liegt hier die Annahme nahe, dass entweder kein Affektdurchbruch tatursächlich war oder wir es mit einem extrem kontrollierten Täter zu tun haben, der nach dem ersten Angriff auf sein Opfer innehalten und im Folgenden äußerst planvoll vorgehen konnte.« Der Professor lehnte sich zurück, den blassblauen Blick unter buschigen Augenbrauen prüfend auf Pieplow gerichtet.
»Er legt Feuer. Um die Tat zu vertuschen, indem er die einzige Zeugin verbrennen lässt. Oder ersticken, wie Sie sagen.«Aus der gefurchten Stirn des Professors schloss Pieplow, dass er die Prüfung bestenfalls halb bestanden hatte.
»Nicht nur das. Er entfernt auch alles vom Tatort, was er zur Tatausführung benutzt hat. Messer, Brandbeschleuniger und, besonders heimtückisch, auch den Hausschlüssel, nachdem er die Tür von außen
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