Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
Als die Tür geöffnet wurde, schrammte sie über die Schachbrettfliesen. Wie alt
die Frau war, die durch den Türspalt spähte, ließ sich schlecht schätzen. Ihr Haar war weiß und so schütter, dass ihre Kopfhaut durchschimmerte, ihr Gesicht wirkte müde.
»Ja?«, fragte sie reserviert, aber nicht unfreundlich. Es schien niemanden zu geben, um den sie sich hätte ängstigen müssen. Die meisten Menschen erschraken, wenn unvermutet die Polizei vor ihrer Tür stand. Sie hörte sich ruhig Pieplows Erklärungen an, dann zog sie die Tür so weit auf, dass sie eintreten konnten.
»Wir müssen uns in die Küche setzen«, sagte sie entschuldigend. »Die Stube heize ich nicht, wenn ich allein bin.«
Also nie, dachte Pieplow. Er nahm auf einem hellblau gestrichenen Küchenstuhl Platz und hatte das Gefühl, eine willkommene Abwechslung an einem sehr tristen Wintertag zu sein.
Frau Fischer dirigierte Ostwald zur Küchenbank und zog für sich selbst den zweiten Stuhl unter dem Tisch hervor.
»Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, was es nach all dieser Zeit wieder zu fragen gibt. Es ist doch alles gesagt worden damals.«
Ostwald nickte freundlich. Was sie anbelangte, musste das stimmen. Sie hatte doch gewollt, dass dieser Thiel seine gerechte Strafe bekam, und deshalb alle Fragen beantwortet.
Auch die nach Manuelas Stralsunder Zeit?
»Ich weiß gar nicht, ob die jemand gestellt hat.
Wozu hätte das auch gut sein sollen? Sie ist schließlich hier und nicht in Stralsund … Ich meine, der Mord …« Es fiel ihr immer noch schwer, darüber zu sprechen. »Und außerdem …«
»Ja?«
»Außerdem war es schon schrecklich genug, wie über Manuela geredet wurde.«
»Sie meinen die Leute aus dem Dorf?«
»Auch, ja. Obwohl die einem ja nicht ins Gesicht sagen, was sie denken. Aber dieser Anwalt – den Namen weiß ich nicht mehr – der war schlimm. Richtig schlimm.« Sie schüttelte den Kopf. Bis heute verstand sie nicht, warum sie das hatten ertragen müssen. »Der hat gerade so getan, als sei Manuela selbst schuld gewesen, dass sie …«
Pieplow konnte sich vorstellen, wie die Strategie der Verteidigung ausgesehen hatte. Das Flittchen, das die Männer verrückt macht, bis sie von Sinnen sind und nicht mehr wissen, was sie tun.
So in etwa.
Ein Wunder, dass die Presse nicht auf diesen Zug aufgesprungen war.
»Hat dieser Anwalt auch etwas über Manuelas Zeit in Stralsund gesagt?«
»Ich glaube nicht, nein.«
»Und Sie? Wissen Sie etwas darüber?«
»Was man eben so weiß als Mutter. Es gefiel ihr gut. Die Arbeit, ihre Wohnung. Dass ihr niemand mehr in irgendetwas reinreden konnte.«
»Warum ist sie zurückgekommen, wenn es ihr so gut gefiel?«
»Sie hat gesagt, weil die Stelle in Sellin besser war. Das war wohl so eine Art Beförderung.«
»Haben Sie ihr das geglaubt?«
»Schon, obwohl … Wie soll ich sagen, es war mehr ein Gefühl, dass das nicht der einzige Grund war.«
»Sondern?«
»Manchmal war mir so, als wäre sie wieder bei uns untergekrochen. Wie ein Küken, das sich zu früh aus dem Nest gewagt hatte.« Wieder schüttelte sie den Kopf. Diesmal wie jemand, der sich geirrt haben musste. »Dabei war sie doch alles andere als ein ängstliches Mädchen. Aber sie hatte ein Talent dafür, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Vielleicht wollte sie von allem zu viel.«
Als sie zum Auto zurückgingen, bemerkte Pieplow, dass Ostwald hinkte. Unauffällig musterte er den Exkommissar von der Seite, entdeckte aber nichts Beunruhigendes. Keinen herabgesunkenen Mundwinkel, kein plötzlich erschlafftes Augenlid. Dass die linke Hand zitterte, fiel nicht mehr auf, als Ostwald sie in die rechte legte und festhielt.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Pieplow vorsichtshalber trotzdem.
Ja.
»Wir können auch aufhören. Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es nun ja auch nicht mehr an.«
Nein.
In Ostwalds Blick lag etwas Wütendes, Bohrendes, das Pieplow an seine erste Begegnung mit ihm denken ließ. An die Kraft und das Tempo, mit dem Ostwald die Dinge in die Hand genommen und vorangetrieben hatte. An den Ingrimm, mit dem er sein Ziel verfolgte. Und immer erreicht hatte.
Es deutete einiges darauf hin, dass es mindestens einmal das falsche gewesen war.
»Machen wir also weiter«, sagte Pieplow und ließ den Motor an.
Das Gut lag im Winterschlaf und sein Verwalter irgendwo unter südlicher Sonne.
»Malediven oder so«, sagte der Mann, der währenddessen immer mal nach dem Rechten sah, damit nichts kaputt
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