Brandfährte (German Edition)
Vanessa bestand darauf, einfach einmal etwas mehr Ruhe und Zeit für sich selbst haben zu wollen.
Am späten Nachmittag meldete sich die Pförtnerin bei Petersen und forderte sie auf, ihren Zeugen Nils Weber am Eingang abzuholen. Vor einiger Zeit waren die Sicherheitsauflagen im Präsidium verschärft worden. Zum Leidwesen vieler Kriminalbeamter wurde den Zeugen und Tatverdächtigen am Eingang kein Plan mehr in die Hand gedrückt, sondern alle Ermittler mussten die Besucher an der Pforte abholen. Für den Hin- und Rückweg benötigten die Beamten vom 1 . Kommissariat rund eine Viertelstunde. Eine herzkranke Frau, die auf jeder Etage eine fünfminütige Verschnaufpause einlegen musste, hatte bei Steenhoff vor kurzem das Fass zum Überlaufen gebracht. «Das ist ineffektiv und nervtötend. Ich arbeite nicht zehn, zwölf Stunden während eines aktuellen Mordfalles, um meine Zeit im Begleitservice zu vertrödeln.»
Kommissariatsleiter Bernd Tewes hatte ihm zugestimmt, aber wenig Hoffnung auf eine Änderung gemacht. Steenhoff hatte sich damals so geärgert, dass er die Nachteile der Dienstvorschrift im Intranet der Bremer Polizei auflistete. Viele Kollegen gaben ihm spontan per E-Mail recht, doch sie mussten ihre Zeugen weiterhin an der Pforte abholen.
Nils Weber war groß und schlaksig. Die halblangen dunkelblonden Haare des 22 -Jährigen wirkten wuselig und standen vom Kopf ab. Petersen vermutete, dass Nils Weber viel Zeit in seine Frisur steckte und eine halbe Tube Gel für sein Styling brauchte. «Sie sehen gar nicht aus wie eine Polizistin», eröffnete er das Gespräch, während sie über den Hof zum 1 . Kommissariat gingen. Petersen lief einen halben Meter voran. Sie spürte, dass der junge Mann sie von Kopf bis Fuß musterte.
«Ist das ein Kompliment oder eine Kritik?», ging Petersen auf den Smalltalk ein.
«Weder noch. Sie sehen einfach überraschend anders aus. Aber ein paar Komplimente würden mir natürlich auch einfallen», sagte er und zwinkerte ihr zu.
«Danke.» Petersen hielt ihm die Tür zu ihrer Dienststelle auf. «Ich nehme an, Sie haben mit der Kondition kein Problem. Wir müssen nämlich in den dritten Stock.»
Doch statt darauf zu antworten, blieb Nils Weber im Eingang stehen und drehte sich zu ihr um. «Und wieso sind Sie ausgerechnet bei der Polizei gelandet?»
Petersen wollte den neugierigen Zeugen harsch in seine Schranken weisen. Aber der junge Mann sah sie so ehrlich interessiert an, dass sie ihre Antwort herunterschluckte.
«Das erzähle ich Ihnen vielleicht einmal, wenn wir den Fall hier gelöst haben.»
Vor der Tür des Kommissariats blieb Nils Weber erneut stehen und las irritiert einen in milchig weißer Schrift verfassten Satz auf der Tür vor: «Das Erhabene in mir grüßt das Erhabene in dir.» Er sah Petersen ratlos an. «Was soll das denn?»
«Ach, das sehe ich schon gar nicht mehr», räumte Petersen ein. «Soweit ich weiß, haben Kunststudenten diesen Spruch irgendwann einmal auf alle Türen der Kommissariate geklebt.»
«Krass.»
Nils Weber schien beeindruckt. Neugierig folgte er Petersen, die auf das Vernehmungszimmer am Ende des Flures zuging. Er blieb vor zwei auf Kartonpapier aufgezogenen großen Fotos stehen. Eines zeigte eine Hausecke, an der die Farbe abgeplatzt war. Ein tropfender Wasserhahn bildete den Mittelpunkt des Bildes. Direkt daneben hing ein Foto, auf dem der schmuddelige rote Sitz eines Regionalzuges abgebildet war. Jemand hatte einen schwarzen Regenschirm auf dem Sitz liegenlassen. Aus Erfahrung wusste Petersen, dass die Bilder auf viele Betrachter unheimlich wirkten.
«Tatorte?», fragte Nils Weber und zeigte beklommen auf die Vergrößerungen.
Petersen zuckte gleichgültig mit den Schultern. «Nein, Kunst.»
«Echt krass.»
Nach einer Stunde Vernehmung begann sich der junge Zeuge zu beschweren, er habe doch nun alles, wirklich alles berichtet. Nach einer weiteren Stunde wirkte er müde und unkonzentriert. Er erzählte Petersen, dass Maike Ahlers auf ihn lange Zeit einen zickigen und dominanten Eindruck gemacht habe. Bei der letzten Hausversammlung hatte sie von allen verlangt, immer die Haustür abzuschließen und dafür in Kauf zu nehmen, bei jedem Besuch zur Tür zu rennen. Deshalb war es zwischen ihnen zum Eklat gekommen.
«Am nächsten Abend stand sie mit einer Flasche Wein vor der Tür und hat sich entschuldigt», erinnerte sich der Student. «Da hat sie auch zum ersten Mal davon erzählt, dass sie Angst vor einem Typen hat, der
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