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Brandherd

Brandherd

Titel: Brandherd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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etwas über dem Horizont ist, ist es auch über uns. Das ist wichtig, denn wenn wir beide auf Horizonthöhe sind und der, den wir anschauen, sich außerdem nicht zu bewegen scheint, heißt das, er fliegt auf unserer Höhe und bewegt sich entweder von uns weg oder geradewegs auf uns zu. Ist doch vielleicht nicht ganz dumm, aufzupassen und rauszufinden, was von beiden, stimmt's?«
    Der Unterricht ging weiter, bis die Skyline von New York in Sicht kam. Jetzt nahm Lucy die Steuerung wieder selbst in die Hand. Sie flog uns niedrig an der Freiheitsstatue und an Ellis Island vorbei. Hier waren vor langer Zeit meine italienischen Vorfahren eingetroffen, um in einer verheißungsvollen Welt der Möglichkeiten mit sozusagen nichts einen neuen Anfang zu wagen. Die City schloss sich um uns. Riesig ragten die Gebäude des Bankenviertels auf, während wir in einer Höhe von fünfhundert Fuß dahinflogen und der Schatten unseres Hubschraubers unter uns übers Wasser glitt. Es war ein heißer, klarer Tag. Hubschrauber mit Ausflugsgästen drehten ihre Runden. In anderen saßen Geschäftsleute, die alles hatten, nur keine Zeit. Lucy war mit dem Funkgerät beschäftigt. Die Anflugkontrolle schien uns nicht zu r Kenntnis nehmen zu wollen, weil der Luftverkehr so dicht war und die Controller sich für Flugobjekte, die auf einer Höhe von siebenhundert Fuß flogen, nicht besonders interessierten. Auf dieser Höhe beschränkten sich die Vorschriften für den Flugverkehr in dieser Stadt mehr oder minder auf »sehen und ausweichen«. Wir folgten dem East River über die Brooklyn-, die Manhattan- und die Williamsburg-Bridge, überflogen mit einer Geschwindigkeit von neunzig Knoten dahinkriechende Müllkähne, Tanker und weiße Ausflugsschiffe, die ihre Runden drehten. Als wir an den abbröckelnden Wohnhäusern und alten Krankenhäusern von Roosevelt Island vorbeikamen, teilte Lucy La Guardia mit, was wir vorhatten. Mittlerweile lag Ward's Island unmittelbar vor uns. Es schien passend, dass der Fluss an der südwestlichen Spitze der Insel Hell Gate, Tor zur Hölle, hieß. Was ich über Ward's Island wusste, rührte von meinem anhaltenden Interesse an Medizingeschichte her. Wie überhaupt viele der New Yorker Inseln, war Ward's Island früher ein Verbannungsort für Sträflinge, Seuchen-und Geisteskranke gewesen. Die Geschichte von Ward's Island war dabei besonders unglücklich verlaufen, wie ich mich erinnerte, denn um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hatte es auf dieser Insel, wo sich die Quarantänestationen für Typhuskranke befanden und sich jüdische Flüchtlinge aus Russland in Lagern drängten, weder Heizmöglichkeiten noch fließend Wasser gegeben. Um die Jahrhundertwende war das Irrenhaus der Stadt auf die Insel verlegt worden. Gewiss hatten sich dort die Bedingungen inzwischen verbessert, auch wenn die Bewohner womöglich noch um einiges verrückter waren. Jetzt hatten die Patienten klimatisierte Räume, Anwälte und Hobbys. Sie hatten Anspruch auf ärztliche Versorgung, psychotherapeutische Behandlung , Gesprächsgruppen und Freizeitsport.
    Unser Einflug in den kontrollierten Luftraum über Ward's Island war täuschend friedlich. Niedrig überflogen wir grüne Parks und die Schatten alter Bäume. Dann ragten die hässlichen Backsteingebäude des Manhattan Psychiatrie Center, des Kinderpsychiatriezentrums und Kirbys direkt vor uns auf. Der Triborogh Bridge Parkway verlief mitten über die Insel, und irgendwo sichteten wir einen kleinen Zirkus mit fröhlich gestreiften Zelten, Ponys und Einradfahrern, der hier völlig fehl am Platz schien. Nur wenige Zuschauer hatten sich eingefunden, unter ihnen auch Kinder, die Zuckerwatte aßen, und ich fragte mich, warum sie nicht in der Schule waren. Ein wenig weiter nördlich kamen eine Kläranlage und die Akademie der New Yorker Feuerwehr ins Blickfeld, auf deren Parkplatz ein langer Löschzug Wendemanöver übte.
    Die forensische Psychiatrie hatte zwölf Stockwerke, vor deren blinden Fenstern Stahl-Maschendraht und die Kästen der Klimaanlagen hingen. Stacheldrahtrollen auf den Umzäunungen wölbten sich den Spazierwegen und Freizeitanlagen entgegen, um eine Flucht zu verhindern, wie sie Carrie offenbar so mühelos gelungen war. Der Fluss hier war etwa anderthalb Kilometer breit, unruhig und unheimlich, die Strömung stark, und ich hielt es nicht für wahrscheinlich, dass ihn irgendjemand schwimmend zu durchqueren vermochte. Es gab jedoch eine Fußgängerbrücke, wie man mir gesagt hatte.

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