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Brandherd

Brandherd

Titel: Brandherd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Sohn«, sagte sie leise und starrte in ihren Kaffee. »Ich weiß also, was es heißt, Kinder ers t großzuziehen und dann zu erleben, wie sie plötzlich verschwinden. Ihren eigenen Weg gehen und keine Zeit mehr für einen Besuch oder einen Anruf haben.«
    »Lucy ist schon lange erwachsen«, sagte ich rasch, denn ich wollte nicht, dass sie mich bemitleidete. »Außerdem hat sie nie bei mir gelebt, nicht dauerhaft, meine ich. In gewisser Hinsicht war sie immer schon weg.«
    McGovern lächelte jedoch nur, als sie aufstand.
    »Ich muss mich um meine Truppe kümmern«, sagte sie. »Ich glaube, ich mache mich mal besser auf den Weg.«

6
     
    Um vier Uhr war mein Stab im Autopsiesaal immer noch an der Arbeit, und ich ging hinein und hielt Ausschau nach Chuck. Er und zwei meiner Assistenzärzte arbeiteten an der Leiche der verbrannten Frau, entbeinten sie so gut es ging mit Hilfe von Kunststoffspateln, denn alles Härtere hätte die Knochen zerkratzen können.
    Chuck schwitzte unter OP-Kappe und -maske, während er Gewebe vom Schädel kratzte. Seine braunen Augen hinter dem Gesichtsschutz wirkten ziemlich glasig. Er war groß und drahtig und hatte kurzes, sandfarbenes Haar, das dazu neigte, in alle Richtungen vom Kopf abzustehen, ganz gleich wie viel Gel er benutzte. Er war auf seine unerwachsene Art attraktiv, und nach über einem Jahr in diesem Job hatte er immer noch Angst vor mir.
    »Chuck?«, sagte ich noch mal und beobachtete ihn bei einer der gruseligeren Aufgaben der Gerichtsmedizin.
    »Ja, Ma'am.«
    Er hörte auf zu schaben und blickte verunsichert zu mir empor. Der Gestank wurde mit jeder Minute schlimmer, da das ungekühlte Fleisch weiter verweste, und ich freute mich nicht auf das, was ich als Nächstes zu tun hatte.
    »Ich will mich nur noch einmal vergewissern«, sagte ich zu Ruffin, der so groß war, dass er dazu neigte, eine gebeugte Haltung einzunehmen und den Kopf wie eine Schildkröte einzuziehen, wenn er mit jemandem sprach. »Unsere alten verbeulten Töpfe und Tiegel sind nach dem Umzug offenbar nicht wieder aufgetaucht.«
    »Ich glaube, die sind irgendwo auf der Strecke geblieben«, antwortete er.
    »Was wahrscheinlich das Beste war«, erklärte ich, »aber wiederum bedeutet, dass Sie und ich etwas zu erledigen haben.«
    »Jetzt gleich?«
    Er ließ sich das nicht zweimal sagen und war schon unterwegs zum Umkleideraum, um aus seiner dreckigen, stinkenden Arbeitskleidung herauszukommen und gerade so lange zu duschen, um sich das Shampoo wieder aus dem Haar zu spülen. Er schwitzte immer noch und sein frisch gewaschenes Gesicht war rosig, als ich ihm die Wagenschlüssel gab. Der dunkelrote Dienst-Tahoe stand in der Tiefgarage, und ich stieg auf der Beifahrerseite ein und ließ Ruffin fahren.
    »Wir fahren zu Cole's Restaurant Supply, einem Großhandel für Gastronomieartikel«, teilte ich ihm mit, als er den kraftvollen Motor anließ. »Ungefähr zwei Blocks westlich der Parham, an der Broad. Nehmen Sie einfach die 64 und dann die Ausfahrt West Broad. Von da an dirigiere ich Sie.«
    Er drückte einen Kontrollknopf an der Sonnenblende, und das Garagentor hob sich schwerfällig und ließ das Sonnenlicht herein, das ich den ganzen Tag nicht gesehen hatte. Die Stoßzeit hatte gerade begonnen, und in einer halben Stunde würde kein Durchkommen mehr sein. Ruffin fuhr wie eine alte Frau: Dunkle Gläser auf der Nase und vorgebeugt, blieb er strikt fünf Meilen unter dem Tempolimit.
    »Sie können auch ein bisschen schneller fahren«, sagte ich so gelassen wie möglich. »Die machen um fünf zu, das heißt, wir müssen uns beeilen.«
    Er trat aufs Gas, sodass wir unvermittelt vorwärts preschten, und fischte gleichzeitig im Aschenbecher nach Gebührenchips.
    »Dürfte ich Sie mal was fragen, Dr. Scarpetta?«, sagte er.
    »Bitte. Nur zu.«
    »Es ist etwas ziemlich Merkwürdiges.« Er schaute wieder in den Rückspiegel. »Das macht nichts.«
    »Wissen Sie, ich habe so einiges erlebt, im Krankenhaus und beim Bestattungsinstitut«, begann er nervös. »Und das hat mir alles überhaupt nichts ausgemacht, ja?«
    An der Mautstelle fuhr er langsamer und warf einen Chip ein. Der rot gestreifte Balken ging hoch, und wir rollten gemächlich hindurch, während andere, die es anscheinend eiliger hatten als wir, an uns vorbeischossen.
    »Das ist doch normal, dass das, was Sie jetzt erleben, Sie nicht kalt lässt«, vollendete ich seinen Gedanken für ihn, oder jedenfalls glaubte ich das.
    Doch das war es nicht, was er mir hatte

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