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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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sie, einen gänzlich anderen Ort
zu besuchen. Als ob sie – erkannte sie jetzt – zu einer
Beerdigung unterwegs gewesen wäre.
    »Heute nachmittag«, wiederholte er. »Dann ist
Victorias Vater aus Hartford zurück?«
    »Ja.«
    »Und mein Vater; geht es ihm so gut, daß er teilnehmen
kann? Er wird – auf seinen Rohrstock gestützt –
murmeln: ›Ein böses Ende. Ich habe gewußt, daß
er ein böses Ende nehmen würde.‹ Wird man mir am Grab
einen letzten Dienst erweisen?« Elliott sprach’s und nahm
seinen Hut an sich.
    »Ja«, sagte sie in höchster Aufregung. »Wohin
willst du gehen?«
    »Ich werde natürlich mit dir gehen. Zu der Beerdigung.
Ich habe die erste versäumt.«
    »Das kannst du nicht«, sagte sie und zog sich vorsichtig
zur Tür zurück, während sie den Schlüssel in
ihrem Muff umklammerte.
    »Ich denke«, sagte er kalt, »dieses kleine Spiel
dauert jetzt lang genug. Ich hätte mich schon nicht von dir
davon abhalten lassen sollen, auf mein erstes Begräbnis zu
gehen. Und ich werde gewiß nicht zulassen, daß du mich
von diesem abhältst.«
    Anne war derart entsetzt, daß sie sich nicht zu rühren
vermochte. »Du wirst deinen Vater umbringen«, sagte
sie.
    »Nun, das wäre doch wunderbar. In diesem Fall
hättest du wenigstens jemanden, den du neben diesem armen
Fremden beisetzen könntest, der sich als Elliott verkleidet
hat.«
    »Wir werden dich begraben, Elliott«, sagte sie; und als
sie dies sagte, geschah etwas Verräterisches mit seinem Gesicht.
»Du weißt, daß du tot bist; nicht wahr,
Elliott?« sagte sie ruhig.
    Er setzte den Hut auf. »Wir werden sehen, ob mich meine
Verlobte für tot hält. Oder ihr Vater. Er wird gewiß
froh sein, mich lebend und schuldenfrei wiederzusehen! Er wird mich
mit offenen Armen willkommen heißen; mich, seinen
künftigen Schwiegersohn. Und die hübsche Vicky wird eine
Braut statt einer Witwe sein.«
    Anne dachte an die gütigen grauen Augen Victorias, an ihre
kleine Hand, in der sie in der Küche des Arztes die ihre
gehalten hatte; und an Victorias Vater, in dessen Gesicht
entschlossene Verteidigungsbereitschaft zu lesen gewesen war, als er
die Hand auf die Schulter seiner Tochter gelegt hatte.
    »Weshalb tust du all diese schrecklichen Dinge,
Elliott?«
    »Ich verabscheue Särge. Sie sind eng und finster und
staubig. Und kalt. Wie dieser Raum. Ich lasse nicht zu, daß man
mich in ein Grab sperrt… wie du mich hier eingesperrt
hast.«
    Anne sog scharf die Luft ein.
    »Sie werden von der Freude derart überwältigt sein,
daß sie ganz vergessen, was sie auf dem Friedhof
vorhatten.« Er lächelte sie entwaffnend an. »Sie
werden glatt vergessen, mich zu begraben.«
    Anne wich an die Tür zurück. »Ich werde das
verhindern.«
    »Arme Anne; wie willst du mich aufhalten?«
    Sie hatte ihn nicht eingeschlossen; seit der Totenfeier nicht. Sie
hatte die Tür jeden Abend offengelassen, in der Hoffnung,
daß er hinausgehen würde. »Laß die Tür
offen«, hatte er hinter ihr hergerufen… Aber er selbst
hatte sie nicht geöffnet. Die Tür war immer, wenn sie
zurückgekommen war, geschlossen gewesen; als hätte sie ihn
eingeschlossen.
    »Ich werde dich einschließen«, sagte sie laut,
während sie den Schlüssel in ihrem Muff umklammerte.
    Elliott lachte. »Was sollte das nützen? Wenn ich ein
Geist wäre, müßte ich durch Wände gehen und
über den Friedhof auf dich zuschweben können; ist es nicht
so, Anne?«
    »Nein«, sagte sie fest. »Ich lasse dich
nicht.«
    »Nein?« erwiderte er und lachte erneut. »Wann
hättest du je nein zu mir gesagt und es auch gemeint?
Auch jetzt meinst du es nicht.« Er machte einen Schritt auf sie
zu. »Komm. Wir werden zusammen gehen.«
    »Nein!« sagte sie; wirbelte herum; öffnete und
schloß die Tür hinter sich in einer einzigen Bewegung;
hielt den Knauf mit aller Kraft fest, bis es ihr gelang, den
Schlüssel in das Schloß zu stecken und ihn herumzudrehen.
Elliotts Hand drehte den Türknauf auf der anderen Seite.
    »Hör mit diesem Unsinn auf und laß mich hinaus,
Anne«, sagte er halb lachend und halb ernst.
    »Nein«, erwiderte sie.
    Sie ließ den Schlüssel im Muff verschwinden, und dann,
als hätte sie alle Kräfte verausgabt, ging sie noch die
wenigen Schritte bis in die Kirche und sank auf eine Bank. Es war
dieselbe, auf der sie auch an jenem Tag der Totenfeier gesessen
hatte; sie legte die angewinkelten Arme auf die Lehne der Bank vor
ihr und barg das Gesicht in ihnen. Ihre Hand im Muff hielt noch immer
den Schlüssel

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