Brandwache
ihrer eigenen Gedanken klar zu
sein, für den Fall, daß ich ihn brauche.
Annes Vater reagierte auf das Klopfen an der Tür, bevor sie
auch nur halbwegs die Treppe hinunter war. Sie sah, wie sich sein
Rücken plötzlich versteifte; wie seine Ohren und der Nacken
eine graue Färbung annahmen, und sie dachte: Es ist wegen
Elliott.
Sie war an drei Abenden regelmäßig zur Kirche gegangen,
hatte ihm Essen und Kerzen gebracht, und eine Steppdecke, weil er
sich über die Kälte beklagt hatte; und immer wieder
dieselben wirkungslosen Argumente vorgebracht. Victorias Vater war
nach Hause zurückgekehrt, hatte einen Vormittag auf der Bank
verbracht und war wieder verschwunden. Victoria hatte jeden Morgen
auf dem Weg zu Elliotts Vater ihren Weg gekreuzt und jedesmal
schmaler und blasser ausgesehen. Von ihrem Bruder gab es immer noch
keine Nachricht.
Am dritten Tag war Anne von Victoria schriftlich zum Tee
eingeladen worden.
Anne hatte das Billett Elliott gezeigt. »Wie kannst du ihr
das antun?« hatte sie ihn gefragt.
»Wie kann ich es dir antun, meinst du. Du hast
natürlich angenommen. Es wird bestimmt sehr lustig.«
»Ich habe abgelehnt. Ich muß zu sehr daran denken, was
sie deinetwegen durchmachen muß, Elliott.«
»Und was ist mit dem, das ich durchmachen mußte? In
einem offenen Boot; inmitten der Nacht und mitten in einem Sturm. Ich
kann mich nicht einmal mehr entsinnen, wie ich ans Ufer gelangt bin.
Ich mußte bis halbwegs nach Haddam wandern, ehe es mir gelang,
in einer Schenke ein Pferd zu borgen. Denke daran, was ich
deinetwegen durchmachen mußte, Anne; weil du verschmäht
hast, dich mit mir zu treffen. Jetzt verschmähe ich es, sie
aufzusuchen.« Er zerrte an der Decke, um auch seine Knie zu
bedecken.
Anne war zu müde gewesen, länger mit ihm zu streiten.
Sie hatte das Päckchen mit Essen auf die Bank gelegt und war
umgekehrt.
»Laß die Tür offen«, hatte Elliott gebeten.
»Ich mag es nicht, in diesem Sarg von Zimmer eingesperrt zu
sein. Und berichte mir, wenn Victorias Vater wiederkommt und all
meine Schulden bezahlt hat.«
Er wird niemals wieder hervorkommen, hatte Anne damals
verzweifelt gedacht; aber jetzt, als sie am Treppenabsatz stand und
ihren Vater beobachtete, dachte sie: Er ist doch noch
hervorgekommen, und eilte die Treppe vollends hinab.
Als sie unten angekommen war, sagte ihr Vater anklagend: »Es
ist Miß Thatcher. Sie ist zu Besuch gekommen.«
Sprach’s und ging ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei und die
Treppe hoch.
»Es war nicht richtig von mir, herzukommen«, sagte
Victoria. »Jetzt ist Ihr Vater zornig auf mich.«
»Er ist zornig auf mich. Sie haben nichts Unziemliches getan;
es sei denn, es ist unziemlich, Freundlichkeit zu zeigen.« Sie
standen noch immer im Wind an der offenen Tür. »Wollen Sie
nicht hereinkommen?« bat Anne. »Ich werde uns einen Tee
bereiten.«
Victoria legte ihr die Hand auf den Arm. »Ich bin nicht zu
Besuch gekommen. Ich… muß Sie jetzt um eine
Gefälligkeit bitten.« Sie trug keine Handschuhe, und ihre
Hand fühlte sich selbst durch Annes Wollärmel hindurch
eiskalt an.
»Kommen Sie herein und erzählen Sie es mir«,
erwiderte Anne, und einmal mehr dachte sie: Es ist wegen
Elliott.
Victoria trat ins Vestibül, ließ aber nicht zu,
daß Anne ihr den schwarzen Umhang und das Häubchen abnahm;
und als sich Anne anschickte, die Tür zu schließen, sagte
Victoria: »Ich kann nicht bleiben. Ich muß zu Dr. Sawyer
aufbrechen. Er… Ein Leichnam ist im Fluß gefunden worden.
In der Nähe von Haddam. Ich muß es sehen, um mich zu
vergewissern, daß es sich nicht um Elliott handelt.«
Bei Erwähnung dieses Namens überrollte Anne eine
mächtige Woge des Zornes über Elliott. Beinahe hätte
sie gesagt: »Er ist nicht tot. Er ist im Umkleideraum der
Kirche«; aber Victoria schien nicht aufhören zu
können, nachdem sie einmal zu erzählen angefangen hatte.
»Mein Vater ist nach Hartford gegangen«, fuhr sie fort.
»Dort gab es ein paar Unklarheiten über Spielschulden, die
Elliott gemacht haben soll. Mein Bruder ist noch auf See. Wir wissen
nicht, wo sich sein Schiff zur Zeit befindet. Der Vater Elliotts ist
noch zu krank, um sich aufzumachen. Mein Vater hat sich an seiner
Stelle nach Hartford begeben, und jetzt ist niemand sonst hier, der
sich um diese neue Nachricht kümmern könnte. Elliotts Vater
kann ich es nicht zumuten. Es würde ihn umbringen… Ich bin
gekommen, um Ihren Vater zu bitten; aber jetzt muß ich
befürchten, ihn verärgert zu haben;
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