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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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sie bekannt zu machen. »Dies ist
mein Bruder!« sagte sie glücklich. »Roger, das ist
Miß Lawrence, die so freundlich zu mir gewesen ist.«
    Er schüttelte Annes Hand.
    »Wir hörten, daß Ihr Schiff untergegangen
ist«, sagte sie.
    »Das ist es auch«, erwiderte er und sah an ihr vorbei
auf das offene Grab.
    * * *
    Anne stand mit dem Schlüssel in der Hand draußen vor
der Tür zum Chorraum, bis ihre Finger steif wurden, und sie kaum
noch fähig war, den Schlüssel ins Schloß zu
führen.
    Niemand befand sich in der Kirche. Reverend Sprague war mit
Victoria, ihrem Vater und ihrem Bruder zum Teetrinken nach Hause
gegangen. »Bitte, kommen Sie doch auch«, hatte Victoria zu
Anne gesagt. »Ich möchte, daß Sie und Roger Freunde
werden.« Dann hatte sie Annes behandschuhte Hand gedrückt
und war durch den Schnee davongeeilt.
    Es war beinahe Abenddämmerung. Der Schnee hatte heftiger zu
fallen begonnen, als sie damit fertig geworden waren, den Leichnam
Elliotts zu beerdigen. Reverend Sprague hatte die Liturgie bei der
Totenbestattung ohne Unterbrechung zu Ende gelesen, dann waren sie
still stehengeblieben, die Häupter gebeugt, die Blicke auf den
Schnee gerichtet, während der alte Mr. Finn das Grab
aufgefüllt hatte. Dann waren sie zum Teetrinken gegangen, und
Anne war zur Kirche zurückgekehrt.
    Sie drehte den Schlüssel im Schloß herum. Dem Klappern
des Schlüssels schien ein weiteres Geräusch derselben Art
zu folgen; und einen flüchtigen Augenblick lang stellte sich
Anne Elliott auf der anderen Seite der Tür vor; die Hand schon
am Knauf, bereit, hinter ihr vorbeizustürzen. Dann öffnete
sie die Tür.
    Es war niemand hier. Sie wußte es, bevor sie die Kerze
anzündete. Niemand war während der ganzen Woche
hiergewesen; nur sie selbst. Die Abdrücke ihrer Stiefelchen mit
den schmalen Absätzen zeichneten sich deutlich im Staub ab. Die
Bank, auf der Elliott gesessen hatte, trug eine dicke und
unberührte Staubschicht, und die Steppdecke, die sie ihm
mitgebracht hatte, lag am anderen Ende der Bank.
    Sie stieß mit der Stiefelspitze gegen etwas, das auf dem
Boden lag, halb unter der Bank verborgen. Sie bückte sich, um es
anzuschauen. Es waren die Päckchen mit Nahrung; ihre
Verpackungen aus braunem Papier waren unberührt; sie lagen dort,
wo Elliott sie hingelegt hatte. Eine Maus hatte die Schnur eines der
Päckchen durchgenagt, und sein Inhalt lag verstreut umher; ein
Stück Schinken, der Winterapfel und das inzwischen vertrocknete
Stück Kuchen, was sie ihm am ersten Abend mitgebracht hatte. Das Frühstück eines Schuljungen, dachte Anne, und
sie ließ die Päckchen liegen, wo sie lagen; mochte
Reverend Sprague sie finden und sich einen Vers auf die
Fußspuren, die Kerze und die verstreute Nahrung machen.
    Soll er das Schlimmste annehmen, dachte Anne. Schließlich ist es die Wahrheit. Ich habe Elliott
ermordet.
    Es wurde sehr kalt in dem Raum. »Ich muß zu Victoria
zum Tee«, sagte sie und blies die Kerze aus. In dem schwachen
Licht, das aus dem Gang hereinfiel, nahm sie die Steppdecke auf,
faltete sie zusammen und legte sie sich über den Arm. Sie
ließ den Schlüssel auf den Boden fallen und verzichtete
darauf, die Tür hinter sich zu verschließen.
     
    »Da war ich also ganz allein«, sagte Roger,
»umgeben von der rauhen See, das Hemd auf meinem Rücken
steifgefroren… keiner meiner Schiffskameraden in Sicht… mir
blieb nur das Walfängerboot.« Er machte eine
beifallheischende Pause.
    Anne zog sich die Steppdecke enger um die Schultern und beugte
sich vor, um ihre Hände über dem Feuer zu wärmen.
    »Möchten Sie etwas Tee haben?« erkundigte sich
Victoria freundlich. »Roger; wir möchten deine Geschichte
sehr gern hören, aber wir müssen darauf achten, daß
sich die arme Anne aufwärmt. Ich fürchte, sie hat sich auf
dem Friedhof eine schreckliche Erkältung zugezogen.«
    »Mir ist schon viel wärmer; vielen Dank«, sagte
Anne, aber sie lehnte den Tee nicht ab. Sie legte ihre Hände um
die heiße Tasse aus dünnem chinesischen Porzellan.
    Roger verstummte und begann, ungeschickt mit dem Schürhaken
im Feuer herumzustochern.
    »Nun«, sagte Victoria, als die Kohlen wieder hellauf
loderten, »jetzt magst du uns den Rest deiner Geschichte
erzählen, Roger.«
    Roger blieb am Kamin hocken, das Schüreisen locker in den
kräftigen, wettergegerbten Händen.
    »Es gibt nichts weiter zu erzählen«, erwiderte er
und sah zu Anne hoch. »Die Riemen des Walbootes waren an Ort und
Stelle. Ich bin ans Ufer

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