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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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hübschen Vicky schwinden die Sinne vor
Erleichterung, als sie eines aufgequollenen Fremden ansichtig
wird… Dr. Sawyer ist mit dem Riechsalz zur
Stelle…«
    »Es war deine Leiche, Elliott.«
    Sie hatte erwartet, daß er erschüttert aussehen
würde; oder verschlagen; oder eingeschüchtert. Aber statt
dessen verschränkte er die Hände hinter dem Kopf und
lächelte Anne an. »Wie wäre das möglich, meine
süße Anne? Hast du etwa ebenfalls einen hysterischen
Anfall erlitten?«
    »Wie bist du vom Fluß her nach Haddam gekommen,
Elliott? Das hast du mir noch nicht erzählt.«
    Er veränderte seine Haltung nicht im geringsten. »Am
Ufer graste ein Pferd. Ich bin ihm auf den Rücken gesprungen
– ein rechter Reitersmann – und zu dir heimwärts
geritten.«
    »Du hast gesagt, du hättest das Pferd in einer Schenke
bekommen.«
    »Ich wollte dein empfindliches Gemüt nicht erschrecken,
indem ich dir erzählte, daß ich ein Pferd gestohlen habe.
Möglicherweise habe ich dein Zartgefühl überbewertet.
Du scheinst keinerlei Skrupel zu haben, mich… was genau ist es,
dessen du mich verdächtigst?… mich des Mordes an einem
harmlosen Passanten anzuklagen, dem ich sodann meine Kleider anzog?
Es ist nicht möglich. Wie du dich selbst überzeugen kannst,
trage ich sie noch.«
    »Mein Umhang wurde restlos ruiniert«, fuhr sie
bedächtig fort. »Meine Stiefel waren schlammverkrustet. Der
Saum meines Kleides war fleckig und zerrissen. Wie hast du es
geschafft, den ganzen Weg von Haddam bis hierhin auf einem Pferd zu
reiten… während eines Sturmes… und mit blanken
Stiefeln und frisch gebürstetem Mantel anzukommen?«
    Unvermittelt setzte er sich aufrecht und ergriff ihre Hände.
Sie trat einen Schritt zurück. »Hast du das wirklich alles
für mich auf dich genommen, Anne?« fragte er. »Auf der
Insel gewartet, durchnäßt und verschmutzt? Kein Wunder,
daß du ärgerlich bist. Aber das ist nicht die rechte Art,
mich zu strafen. Mich in diesem verstaubten Raum anzustarren und mir
Geistergeschichten zu erzählen. Ich werde dir einen neuen Umhang
kaufen, Liebste.«
    »Warum hast du nichts von dem gegessen, das ich dir
mitgebracht habe? Du hast gesagt, du seiest halbverhungert. Du
sagtest, du hättest seit Tagen nichts mehr zu dir
genommen.«
    Er ließ ihre Hände los. »Wann hätte ich es
essen sollen? Du bist die ganze Zeit über hiergewesen und hast
mir mit törichten Fragen zugesetzt. Ich esse es jetzt.« Er
ergriff das Päckchen und legte es sich auf den Schoß.
    Anne betrachtete ihn. Seine Hände waren von Sonne und Wind
dunkelrot gegerbt. Die Hände des Leichnams waren bleich gewesen.
Als hätte der Fluß alle Farbe aus ihnen gewaschen.
    Elliott machte sich an dem braunen Papier zu schaffen, in das die
Brotschnitten eingeschlagen waren. »Brot und Kuchen und meine
süße Anne. Was kann ein Mann noch mehr verlangen?«
Aber er öffnete das Päckchen noch immer nicht; nach einer
Weile legte er es auf die Bank zurück.
    »Ich werde erst essen, wenn du gegangen bist«, sagte er
verdrossen. »Du hast mir mit deinem Gerede über tote
Männer den Appetit verdorben.«
    Als sie am nächsten Tag wiederkam, war er vollständig
angekleidet. Das graue Taschentuch stak säuberlich
zusammengefaltet in seiner Westentasche, und er hatte den Mantel
angezogen.
    »Wann ist das Begräbnis?« erkundigte er sich
leichthin. »Ich spreche natürlich vom zweiten
Begräbnis. Ich frage mich, wie viele Begräbnisse ich noch
haben werde? Und ob ich wohl all die Blumen bezahlen muß, wenn
ich wiederkehre?«
    »Es findet heute nachmittag statt«, erwiderte Anne und
fragte sich gleich, nachdem es heraus war, ob sie ihn nicht besser
angelogen hätte.
    Sie hatte sich für die Beerdigung angezogen und die ganze
Zeit – während sie angelegentlich damit beschäftigt
gewesen war, sich in ihre gebürsteten und gesäuberten
warmen Sachen aus Merinowolle zu kleiden und den Muff nicht zu
vergessen – überlegt, daß sie ihm keinen Besuch
abstatten wollte; daß es zu gefährlich wäre. Aber in
ihrem Muff lag der Schlüssel, und sobald sie ihn erblickt hatte,
war ihr klargeworden, daß ihr Vorsatz, Elliott zu besuchen,
bereits festgestanden hatte. Es war genau wie in jener Nacht gewesen,
als sie sich auf die Insel begeben hatte, um Elliott zu treffen.
Damals hatte sie sich nicht um die Wärme gekümmert, sondern
nur darum, nicht gesehen zu werden; und sie hatte den schwarzen
Umhang und das schwarze Kleid angezogen, dazu das schwarze
Häubchen, als beabsichtigte

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