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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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umklammert.
    »Kann ich Ihnen behilflich sein, Miß Lawrence?«
fragte Reverend Sprague freundlich. Er war in seinen schweren
schwarzen Talar gekleidet und trug Die Liturgie bei der
Totenbestattung in der Hand.
    »Ja«, erwiderte Anne und stand auf, um mit ihm auf den
Friedhof zu gehen.
    * * *
    Der Sarg war bereits ins Grab hinabgelassen worden. Die Erde lag
am Grabesrand aufgehäuft, so spröde und farblos wie das
Gras. Der graue Himmel lastete schwer. Es war sehr kalt.
    Victoria trat vor, um Reverend Sprague zu begrüßen und
mit Anne zu sprechen. »Ich bin so froh, daß Sie gekommen
sind«, sagte sie und ergriff Annes behandschuhte Hände.
»Wir haben es eben erst vernommen«, fuhr sie fort. Ihre
grauen Augen füllten sich mit Tränen; und Anne dachte
plötzlich: Er ist schon hiergewesen.
    Victorias Vater gesellte sich zu ihnen und legte den Arm um die
Schultern seiner Tochter. »Wir haben Nachricht aus New London
bekommen«, sagte er. »Das Schiff meines Sohnes ist in einen
Sturm geraten. Mit Mann und Maus.«
    »Nein«, erwiderte Anne. »Ihr Bruder…«
    »Wir hoffen noch und beten darum, daß er verschont
blieb«, sagte Victorias Vater. »Es geschah in unmittelbarer
Nähe der Küste.«
    »Er ist nicht verloren«, sagte Anne wie zu sich selbst.
»Er wird heute kommen«, und sie wußte nicht, wovon
sie sprach.
    »Lasset uns beten«, sagte Reverend Sprague; und Anne
dachte: Ja; ja; beeilen Sie sich nur. Alle Umstehenden
schlossen sich enger ums Grab zusammen, als böte es ihnen Schutz
vor dem eisengrauen Himmel. »Mitten im Leben sind wir vom Tod
umfangen«, las Reverend Sprague ab. »Von wem könnten
wir Hilfe erwarten, es sei denn, von dir, o Herr?«
    Anne schloß die Augen.
    »Denn wir alle müssen vor Christi Richterstuhl
treten.«
    Es begann zu schneien. Reverend Sprague hielt inne, als die ersten
Flocken auf das Buch fielen, und verschlug die Seite. Als er sie
wiedergefunden hatte, sagte er: »Verzeiht mir«, und begann
von vorn. »Mitten im Leben sind wir vom Tod
umfangen…«
    Beeilen Sie sich, dachte Anne, um Gottes willen, beeilen
Sie sich.
    Aus weiter Ferne, von der anderen Seite des Friedhofs her,
jenseits der endlosen mit graubraunem Gras und schwarzgrauen Steinen
bestandenen Ebene näherte sich jemand. Der Pfarrer stockte.
    Fahren Sie fort, dachte Anne. Fahren Sie fort.
    »Daß ein jeglicher empfange, was in seinen Leib gelegt
ist; gemäß seiner Taten; im Guten und im
Bösen.«
    Es war ein Mann in seinem dunklen Mantel. Er trug seinen Hut in
der Hand. Sein Haar war rötlich-braun. Schneeflocken hingen an
seinem Mantel und in den Haaren. Anne wagte nicht, ihm
entgegenzuschauen, aus Furcht, daß die anderen ihn ebenfalls
sähen. Sie senkte den Kopf.
    Reverend Sprague bückte sich und nahm eine Handvoll Erde vom
Rand des Grabes.
    »Der Gnade des allmächtigen Gottes, unseres himmlischen
Vaters, vertrauen wir die Seele unseres abgeschiedenen Bruders an und
übergeben seinen Leib der Erde; Erde zu Erde…« Er
unterbrach sich, die Erde noch in der Hand.
    Anne sah auf. Der Mann war viel näher gekommen; munter
schritt er zwischen den Gräbern daher. Victorias Vater sah
ebenfalls auf. Sein Gesicht wurde grau.
    »Der Gnade des allmächtigen Gottes befehlen wie die
Seele unseres abgeschiedenen Bruders an«, las Reverend Sprague
vor… unterbrach sich nochmals… und sein Blick wurde
starr.
    Victorias Vater legte den Arm um Victorias Schultern.
    Victoria sah auf. Der Mann begann, auf sie zuzulaufen, und
schwenkte den Hut in der Luft.
    »Nein«, sagte Anne. Sie trat mit der Stiefelspitze vor
die rings um das Grab aufgeworfene Erde. Ein paar Erdbröckchen
kollerten ins Grab und polterten dumpf auf den Sarg.
    Reverend Sprague sah sie an; sein Gesicht war zornesrot.
    Er glaubt, daß ich Elliott ermordet habe, dachte Anne
voll Verzweiflung, aber ich habe es nicht getan. Sie
umklammerte krampfhaft den nutzlosen Schlüssel im Muff und
blickte auf den vergessenen Sarg hinab. Ich habe es versucht,
Victoria. Zu deinem Besten. Zum Besten von uns allen. Ja, ich habe
versucht, Elliott zu ermorden.
    Victoria gab einen erstickten Schrei von sich und fing an, zu
laufen; ihr Vater folgte ihr dichtauf. Reverend Sprague klappte
ärgerlich das Buch zu.
    »Roger!« rief Victoria und schlang ihm die Arme um den
Nacken.
    Anne blickte auf.
    Victorias Vater schlug Roger immer wieder und wieder auf den
Rücken. Victoria küßte ihn unter Tränen. Sie
nahm seine große Hand in ihre kleine, behandschuhte Hand und
führte ihn zu Anne, um

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