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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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und es ist sonst
niemand da, der…«
    »Ich werde mit Ihnen gehen«, sagte Anne und warf sich
ihr graues Cape um die Schultern. Es war entschieden zu leicht
für diesen kalten Tag; aber sie wagte nicht, hinaufzugehen und
ein geeigneteres Bekleidungsstück zu holen, denn sie
fürchtete, das Warten könne Victoria zu stark belasten. Ich kann nicht zulassen, daß Elliott sein Spiel
weitertreibt, dachte sie. Ich werde ihr berichten, was er
getan hat.
    Aber sie erhielt keine Gelegenheit, ihren Vorsatz
auszuführen. Victoria ging so rasch, daß Anne fast rennen
mußte, um mit ihr Schritt zu halten; und die Worte sprudelten
in unwiderstehlichen und peinvollen Schwallen aus ihr hervor wie Blut
aus einer verletzten Schlagader.
    »Mein Bruder hätte längst wieder zurück sein
müssen. Aus New London, wo sie andocken sollten, ist keine
Nachricht gekommen. Er kann nicht im Hafen aufgehalten worden sein.
Aber die Stürme waren so heftig, daß ich um sein Schiff
bangen muß. Ich habe ihm an dem Tag geschrieben, an dem bekannt
wurde, daß Elliott vermißt war. Schon damals habe ich
gewußt, daß er tot war. Mein Vater hat gesagt, ich solle
mich nicht grämen… Elliott habe sich nur
verspätet… Wir dürften die Hoffnung nicht
aufgeben… Und jetzt ist mein Bruder Roger überfällig;
und niemand ist mehr hier, um mir zu sagen, daß ich mich nicht
grämen soll.«
    Dann standen sie am Fuß der Treppe, die zu Dr. Sawyers
Haustür führte. Victoria klopfte – ihre bloßen
Hände waren rot von der Kälte –, der Doktor
öffnete sogleich und ließ sie hinein. Er nahm ihnen die
Umhänge nicht ab.
    »Es ist kalt«, sagte er und führte sie rasch den
Flur an seinem Büro vorbei in den hinteren Teil des Hauses.
»Es ist bedauerlich, daß Ihr Vater nicht hier ist. Diese
Angelegenheit ist nichts für junge Damen.«
    Wenn sie nur stehenbleiben wollten, würde sie es ihnen
erzählen; aber sie blieben nicht stehen; nicht einen Augenblick
lang. Anne beeilte sich, um den Anschluß nicht zu
verlieren.
    Der Doktor öffnete eine Tür, die in einen großen,
quadratischen Raum führte. Ein langer Tisch stand darin, der
Anne an eine Küche denken ließ. Über den Tisch war
ein Laken gebreitet, das beinahe bis auf den Boden hing.
    Victoria war sehr blaß.
    »Mir macht diese Sache überhaupt keinen
Spaß«, sagte Dr. Sawyer und wurde beim Sprechen immer
schneller. »Wenn nur Ihr Vater hier wäre… Es ist ein
unangenehmes Geschäft.«
    Anne dachte: Sobald sie gesehen hat, daß dies hier nicht
Elliott ist, sage ich es ihnen.
    Dr. Sawyer zog das Laken von dem Leichnam.
    Es war, als stünde die Zeit, die bisher so rasch an ihnen
vorbeigestrichen war, vollständig still. Der Mann war schon seit
mehreren Tagen tot. Seit dem Sturm, dachte Anne. Sein
schwarzer Mantel war noch immer feucht und fleckig – wie ihr
Umhang es gewesen war, nachdem sie sich bemüht hatte, den
Schlamm herauszuwaschen. Der Tote trug ein weißes Seidenhemd
und eine schwarze Damastweste. In der Westentasche stak ein graues
seidenes Taschentuch, zerknittert und wasserfleckig. Die Leiche
erweckte den Eindruck von Kälte.
    Victoria streckte die Hand nach ihr aus und zog sie wieder
zurück und tastete nach Annes Hand. »Es tut mir leid«,
sagte Dr. Sawyer und starrte auf den Leichnam auf dem Tisch
hinab.
    Es war Elliott.
     
    »Es wurde allmählich auch Zeit, daß du
kamst«, sagte Elliott und erhob sich. Er hatte auf der Bank
gelegen, den zusammengefalteten Mantel unter dem Kopf. Er hatte sein
Hemd aufgeknöpft und die schwarze Weste geöffnet. »Ich
bin halb verhungert.«
    Anne reichte ihm wortlos das Päckchen und betrachtete ihn. In
seiner Westentasche stak ein graues Taschentuch aus Seide.
    »Bist du Vickys Einladung zum Tee gefolgt?« erkundigte
er sich, während er das braune Papier auseinanderzufalten und
Brotschnitten, geräucherten Schinken und Äpfel auszupacken
versuchte. Die Schnur widerstand seinen Bemühungen. »Hast
du die trauernden Hinterbliebenen getröstet und all das? Welch
ein Spaß!«
    »Nein«, erwiderte Anne. Sie ließ ihn nicht aus den
Augen und wartete. Es gelang ihm nicht, die Schnur zu lösen. Er
legte das Päckchen neben sich auf die Bank.
    »Wir sind zu Dr. Sawyer gegangen«, fuhr sie fort.
    »Weshalb? Geht es mit meinem ehrwürdigen Vater zu
Ende… oder hatte die hübsche Vicky einen hysterischen
Anfall?«
    »Wir haben einen Leichnam besichtigt, um ihn wenn
möglich zu identifizieren.«
    »Hu; ein schauriges Geschäft; ich kann es mir
vorstellen. Der

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