Brann 01 - Seelentrinkerin
ohne seine Selbstachtung zu verlieren. Er wich der Schwierigkeit aus, indem er einfach verstummte, in unruhiger Ungeduld wartete er auf Taguiloas Antwort.
»Äh ...« Taguiloa suchte hastig nach einer Möglichkeit, um dem zu entgehen, was er bevorstehen sah. »Ah ... Hochedler Jamar, Saö-jura, wir müssen in Durat sein, ehe von den Hochebenen die Stürme herabwehen.« Er sprach ehrerbietig, aber mit Entschiedenheit, bediente sich der achtsamsten, förmlichsten Ausdrucksweise und hoffte aufs Beste. Wenn dieser Temueng die Ansicht hegte, sich eine eigene Künstlertruppe halten zu müssen, vermochten sie dagegen so gut wie überhaupt nichts zu tun. Fortlaufen hieße nur, alles aufzugeben, und dazu hatte Taguiloa nicht die mindeste Neigung, solange noch eine kleine Aussicht bestand, sich auf anderem Weg entziehen zu können.
»Bleibt hier!« sagte der Hamardan-Jamar. »Es wird nicht zu eurem Nachteil sein.«
»Ein großmütiges Angebot, hoher Jamar, Saö-jura.« Taguiloa redete langsam, dachte noch immer darüber nach, wie es möglich wäre, sich der Klemme zu entwinden. »Wenn du gestattest — wir brauchen mehr als lediglich Zuflucht vor Regen und Essen im Bauch...« Nachdem er dem Temueng einen Seitenblick gewidmet hatte, wagte er etwas weniger förmlich zu sprechen. »Dieses Jahr sind wir wahrhaft auf der Höhe unserer Fähigkeiten. Wenn du gestattest, wir haben da gewisse Träume ... Doch dergleichen ist für dich ohne Belang, Saö-jura. Ich verschwende mit meinem Geplapper deine Zeit, um Verzeihung, Saöjura.« Er senkte den Blick, beugte den Kopf und wartete ab.
Erneut stieß der Temueng ein Räuspern aus. »Nein, nein«, entgegnete er, »schon recht.« Schweigen. Hastig schaute Taguiloa den Temueng an. Der Hüne wirkte kummervoll. Plötzlich drehte er den Schädel, ertappte Taguiloa dabei, wie er ihn beobachtete. »Eine Woche«, sagte er. »Meine Jamika grämt sich.« Halb verschluckte er die Wörter. »Unser Ältester weilt bei den Streitkräften in Croaldhu, unser Jüngster ist nach Andurya Durat gerufen worden.« Er blickte an Taguiloa vorbei, als wäre er sich seiner Anwesenheit nicht länger bewußt. »Er ist ihr Herz, der Atem in ihrem Busen. Und ein tüchtiger Bursche obendrein, er reitet, als wären er und das Roß eins, im Umgang mit Freunden ist er freigebig, er ist beherzt und voll des Tatendrangs. Mag sein, ein wenig unbedacht, aber schließlich ist er jung.« Abermals räusperte er sich. »Deine ...« Wieder suchte er nach dem richtigen Wort, entschied sich für die leicht abfällige temuengische Bezeichnung für Hinaweiber. »Deine ketchin müßten die Jamika ablenken können. Eure Vorstellung gestern abend hat ihr viel Vergnügen bereitet. Sie hat gelächelt, als du diese Tollheiten auf dem Geländer und all die anderen Sachen getrieben hast ... Ja, und sie hat geschlafen, ohne...« Er verstummte, runzelte die Stirn. »Verschafft ihr für eine Weile Erleichterung vom Kummer, Künstler, und du kannst verlangen, was du willst.«
Taguiloa nahm den Blick von dem hünenhaften Mann, der solche Sorgen hatte aufgrund seiner Liebe zu dieser Kuh von Gemahlin und jenem Kalb, dessen Schilderung die Mutmaßung nahelegte, daß es war wie die meisten jungen Temueng, nämlich überheblich, gedankenlos und zu seinesgleichen so rüde wie zu den Menschen, denen das Unglück widerfuhr, seiner Macht ausgeliefert zu sein. Aber gleichwohl, dachte Taguiloa, eine Woche Aufenthalt ist tragbarer als erwartet. Mit Schwung vollführte er eine tiefe Verbeugung. »So verweilen wir denn mit deiner gütigen Erlaubnis eine Woche lang, Saö-jura.«
Der Hamardaner Jamar wandte sich zum Gehen, drehte sich noch einmal um. »Eine der ketchin ... sie ist eine Seherin?«
»Bisweilen vermag jemand weiter als einen Tag, eine Nacht vorauszusehen, Saö-jura.«
»Meine Jamika wird die Seherin um Weissagung ersuchen. Ich mag gar nicht wissen, auf welche Art die ketäia weissagt, ob sie mehr als nur in einem Gesicht lesen kann, ob sie lügt oder ausspricht, was sie in Wahrheit sieht. All das ist mir gleichgültig, Künstler. Sag deiner Seherin, sie soll meine Jamika zufriedenstellen. Hast du mich verstanden?«
»Ich habe verstanden, Saö-jura.«
Ein, zwei Augenblicke lang zauderte der Jamar noch an der Tür, dann stapfte er hinaus.
Taguiloa stand da und schabte sich den Nacken mit Fingern, die zitterten. Erleichterung, Beunruhigung und Unmut wühlten ihn inwendig auf. Eine Woche. Aber wer gab die Gewähr, daß die Verzögerung damit
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