Brann 01 - Seelentrinkerin
Flüssigkeit, bekämpfte das Bedürfnis zu weinen, fühlte sich überwältigt von der Liebe, die sie zu ihrem Bruder empfand, begriff jetzt, wie einsam sie gewesen war in den vergangenen Monaten. Selbst in der Gesellschaft Sammangs und seiner Mannschaft, in der Gemeinsamkeit mit Taguiloa und Harra, sogar in der engen Vereintheit mit den Kindern blieb sie stets einsam; nichts konnte das Gefühl der Gemeinschaft inmitten ihrer Anverwandten und Herzensverwandten ersetzen, in der sie Wärme, Herzlichkeit und Zuneigung atmete, wo der Platz, den sie beanspruchte, aus einem Raum bestand, in den sie hineingewachsen war, in dem sie sich unter sicheren Verhältnissen entfaltete. Vor noch nicht allzulanger Frist hatte jenes Maß an Nähe sie mit Unruhe erfüllt, hatte sie das Empfinden gehabt, in soviel Geborgenheit zu ersticken, doch nun begann sie den vollen Umfang ihres Verlusts zu erfassen. Aber sie hatte keine Zeit, um deswegen in Grübelei zu verfallen. Mit zwei Schlucken leerte sie den Becher, tupfte sich geziert mit dem auf dem Tablett bereitgelegten Mundtuch die Lippen ab, wandte sich an Yaril. »Das war ein tüchtiger junger Hengst, Kind«, sagte sie, drückte sich absichtlich überdeutlich aus. »Geh und suche mir noch so einen Schwengel.« Sie langte in eine Schatulle und holte eine zweite Goldmünze hervor. »Spute dich, Kind, ich werde ... wieder hitzig.«
Wortlos und ohne die Miene zu verziehen, klaubte Yaril das Geldstück von der Tischplatte und verließ die Kammer. Brann schenkte sich erneut Tee in die Schale und blickte von neuem durchs Fenster nach draußen, schlürfte das allmählich kühlere Getränk. Leer und still, wie es nun im Zimmer war, glaubte sie alsbald, kaum vernehmliches Scharren zu hören, das der Schnüffler dann und wann verursachte, wenn er sich hinter den Gucklöchern regte, und meinte, seine Blicke zu spüren.
Die Stille schien sich endlos lang auszudehnen. Mit der Zeit konnte Brann die Geräusche jenseits der Wand deutlicher unterscheiden, sie ertönten lauter und häufiger. Dann bewegten sie sich an der Wand entlang, ganz leises Geknister, das sich leicht mit Knacken und Knarren im Holz des alten Gebäudes verwechseln ließ. Auch als die Geräusche ausblieben, verweilte Brann auf dem Stuhl am Fenster, ohne sich zu rühren, ohne den Gesichtsausdruck zu ändern, trank Tee, als hätte sie alle Zeit der Welt. Als goldenes Schimmern, das sich mit der gräulichen Helligkeit im Freien vermischte, kam Yaril durchs Fenster ins Zimmer zurückgeschwebt. Sie schwebte durch die Wände, gesellte sich anschließend in ihrer Kindsgestalt zu Brann. »Er ist fort.«
»Haben wir ihn überzeugt?«
»Immerhin so weit, daß er keine weiteren Nachforschungen anstellen wird, jedenfalls vorerst nicht. Andernfalls würde er vorm Haus warten, um dich zu verfolgen. Aber für den Fall, daß er einen anderen Schnüffler auf dich angesetzt hat, solltest du dein Aussehen noch eine Zeitlang beibehalten.« Brann schnitt eine Grimasse. Yaril tätschelte ihr die Hand. »Armes Brombeerchen.«
»Ha!« Brann streifte das Gewand ab, warf es aufs Bett, legte wieder die eigene Kleidung an. »Laß uns gehen! Mir gefällt's hier nicht.«
Der Tag verstrich, ebenso die Nacht, und am Spätnachmittag des folgenden Tages, als die Schatten lang und dunkel gewesen wären, hätte die starke Bewölkung am Himmel genug Sonnenschein durchgelassen, fuhr der Wagen der Truppe durchs Westtor, die Planung war beendet, ein zweiteiliger Plan entwickelt worden, alle Beteiligten staken voller Unruhe, fragten sich, ob die ganze Sache nicht mißlingen und sie unrettbar ins Verderben stürzen mußte, während sie sich auf dem Wege zu Maratulliks Meslar befanden, geführt von dem Sklaven, der Taguiloa abgeholt hatte, diesmal jedoch auf einem schlaksigen Maultier ritt, das sich allerdings durch eine träge Natur auszeichnete, seine Vorstellung von angemessener Schnelligkeit beschränkte sich auf eine leicht höhere Geschwindigkeit als herkömmlicher Schlendergang. Ein Paar schweigsamer Krieger ritt voraus, ein zweites Paar hinter der Truppe.
Darüber kreiste als Eule Yaril, Jaril hingegen hockte mit Negomas auf dem Dach des Kastenwagens, beide Knaben verhielten sich ruhig: Negomas, weil ihn die Krieger sowie die großen Häuser, die im perlgrauen Licht weiß, still und unheimlich die Prunkstraße säumten, ängstigten und einschüchterten, und Jaril, weil er keine Aufmerksamkeit erregen wollte.
Brann ritt neben dem braunen Zugpferdchen, schaute
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