Brann 01 - Seelentrinkerin
wallte hier weniger dicht, stellenweise aufgerissen vom abendlichen Wind. Schließlich zwickte Hotea von neuem in Aituateas Arm, zeigte auf die Küste. »Dort«, sagte sie, »dort oben ist der Kindergarten.«
»Höchste Zeit.« Während Brann den Bug von den Felsen ablenkte, ruderte Aituatea den Nachen vorsichtig durchs Gewirr der schwarzen Felsbrocken an den Strand. Brann hielt das Boot fest, und er befestigte die Fangleine an einem größeren Felsklotz, breitete dann eine schwere Abdeckung darüber, mit unregelmäßigen grauen und schwarzen Flecken bemaltes Segeltuch, das die Umrisse des Fahrzeugs tarnte und sie für jeden, der zufällig zum Strand blickte, unkenntlich machte. Kaum war er mit Brann an den winzigen Sandstrand gewatet, kamen die Eulen herabgesaust, gaben Rufe von sich, die Schreie klangen nach Eindringlichkeit; sofort entschwanden sie wieder in die Lüfte. Ein paar Augenblicke später ertönten Stimmen und das Stapfen von Füßen, die Geräusche einer Gruppe Bewaffneter, die sich aus der Richtung des Kliffs näherte. Brann suchte Deckung in einer Senke, die sie Blicken von oben entzog. Aituatea gesellte sich zu ihr, spürte allzudeutlich durch die dünne Seide der Bluse ihre Körperwärme; doch die starke Lebenskraft in ihrem Leib ängstigte ihn mehr, als ihre Nähe ihn aufreizte.
»Wie lange dauert's, bis sie wiederkehren?« erkundigte sie sich im Flüsterton.
»Während Hoteas Tätigkeit im Palast beanspruchte ein Rundgang ungefähr eine Stunde. Es gibt keinen Grund, warum sich daran etwas geändert haben sollte. Wir haben ausreichend Zeit, um das Kliff zu ersteigen.«
Infolge Verwitterung war das Kliff gehörig zerklüftet, doch überwiegend erwiesen sich alle Stellen, an denen Hände und Füße Halt finden konnten, als schlüpfrig, das Gestein bröckelte leicht. Trotzdem erklomm Aituatea die Felswand mit verwegener Geschwindheit, entfaltete seine gesamte Geschicklichkeit. An einem Kliff war er alles andere als ein Krüppel. Er erreichte die Höhe der Felswand eher als Brann, stand schon da und wischte sich den Schlick von den Händen, betrachtete die Gartenmauer, als sie erst den Pfad erstieg, den die Wächter benutzten.
Die Mauer war doppelt so hoch wie er, die Steine waren geglättet und einst nahtlos aneinandergefügt worden, aber ein Jahrhundert salzigen Winds und salziger Nässe hatte Schrunde geschaffen, für die Finger und Zehen eines geschickten Kletterers schmale Spalten herausgeschliffen. Aituatea warf die Sandalen von den Füßen, stopfte sie in eine Tasche seines Überrocks, schaute Brann an und erkletterte die Mauer. Sobald er die Mauerkrone erklommen hatte, kroch er darauf entlang, bis er sich hinter dichtem Laub befand und von Türen und Fenstern des Kinderhorts aus nicht mehr gesehen werden konnte.
Brann hatte einige Schwierigkeiten beim Überwinden der Mauer, Aituatea mußte ihr eine Hand reichen; wieder spürte er das Brennen ihrer Körperwärme, als er die Faust um ihre Hand schloß. Sie lächelte, als sie sein Unbehagen bemerkte, hockte sich auf die Mauer, zog wieder die Stiefel an.
Über ihren Köpfen kreisten die Eulen, schwangen sich hinunter in den Garten, und sobald sie den Erdboden berührten, verwandelten sie sich erneut in Bulldoggen. Lebhaft liefen sie kreuz und quer durch den Garten, schnüffelten in den Schatten, bis sie sich davon überzeugt hatten, daß sich darin niemand aufhielt, dann kamen sie lautlos zur Mauer, warteten darauf, daß Brann hinabstieg; sie tat es, hangelte sich mühelos und anmutig am Geäst abwärts. Aituatea kletterte ebenfalls hinunter, vollführte zum Schluß einen Sprung, traf härter auf als beabsichtigt, humpelte auf die Türen zu, begleitet von Hotea wie von einem Irrlicht. Obwohl sie still blieb, fühlte er ihre Aufregung. Hier hatte die Hexe ihr aufgelauert. »Schwester«, flüsterte er, »erkunde für uns das Innere.«
Hotea wallte durch die Hauswand, kehrte einige Augenblicke später zurück ins Freie. »Leer«, rief sie, »verlassen! Keine Kinder, keine Eheweiber, keine Fronmaiden. Alle fort. Niemand übrig.« Ihre wie kristallische Gestalt schlotterte. »Auf dem Grund der Bucht müssen die Gebeine zuhauf ruhen.«
»Um so günstiger für uns.« Aituatea zückte aus einer unterm Überrock verborgenen Scheide ein langes schmales Messer, zwängte die Klinge in den Türspalt, bewegte sie auf und ab, bis er merkte, wie sich der Riegel löste und die Tür nachgab. Brann berührte ihn am Arm, ein Zucken durchfuhr ihn wie von einem
Weitere Kostenlose Bücher