Brann 01 - Seelentrinkerin
den ärgsten Notfall dabei. Bislang brauchte ich die Pfeile nicht zu verwenden, aber ich kann aus zwanzig Schritten Entfernung eine Hand treffen. Schwester, wo stehen sie? Was tragen sie an Rüstung?«
Hotea kniete sich zu ihm. »Ungefähr ein Dutzend Schritte hinterm Treppenabsatz. Meine, nicht deine Schritte.« Mit aneinandergelegten Handgelenken streckte sie die Arme aus, winkelte die Hände an. »Dies ist der Winkel, in dem du das Blasrohr aus der nächstmöglichen Deckung anlegen mußt. Sie schauen nicht zur Treppe, während der gesamten Zeit, in der ich sie beobachtete — lange war's freilich nicht —, haben sie's nicht getan.« Ruhelos waberte ihre Geistergestalt. »Es wird 'n schwieriger Schuß, Bruder, sogar du dürftest damit Mühe haben. Sie tragen mit Eisen verstärktes Leder, eiserne Reifen und Helme.« Sie umrahmte das Gesicht mit den Händen, bedeckte Stirn und Kinn. »Mehr hast du nicht als Ziel.«
»Keine Hände?«
»Ach, hab ich vergessen. Handschuhe.«
»Tungjiis Titten, man macht's mir nicht leicht!« Aituatea zog das Blasrohr auseinander, bis es eine Länge von etwa drei Spannen hatte. Über die Schulter sah er die Hunde an; sie standen auf allen vieren, die kristallhellen Augen glommen von interessierter Anteilnahme, die Zungen hingen ihnen aus dem Maul. Er raunte einen Fluch, klaubte aus dem Überrock eine kleine Lackdose, nahm sie in die Hand, die schon das Blasrohr hielt. »Diese zwei ... Können sie die Wachen überwältigen, sollte ich sie verfehlen?«
Ohne eine Antwort zu geben, erhob sich Brann und schlich zum Fuß der Treppe. Die Bulldoggen schnupperten an Aituateas Beinen, als er zu ihr trat, dann tappten sie wie Katzen — langsam und geschmeidig, so daß ihre Zehennägel auf dem Holz keine Geräusche verursachten — die Stufen hinauf. Unmittelbar vor der Biegung der Treppe verschwammen ihre Umrisse, erhielten die Gestalt zweier langer gefleckter Schlangen, die lautlos und nahezu unsichtbar hinauf zum Treppenabsatz glitten.
Auf der Treppe folgte Aituatea ihnen, stellte sich innerlich voll und ganz auf die Erfordernisse des Augenblicks ein. Er kniete sich auf die oberste Stufe und krauchte um die Ecke, verborgen im Schatten, den die Lampe überm Sonnenportal warf, deren Schein auf den zahlreichen Schichten Lack und dem als vergoldete Einlegearbeit in beiden Hälften der Flügeltür eingelassenen Sonnenscheibe glänzte. Er schob einen der vergifteten Pfeile ins Blasrohr, achtete sorgsam darauf, nicht die wie mit Gummi überzogene Spitze anzurühren, klaubte ein zweites Geschoß aus der Dose und legte es neben den Knien auf dem Fußboden bereit. Die Pein in der Hüfte vergessen, vergessen auch die Eisigkeit in der Magengegend, verwendete er die gesamte Aufmerksamkeit aufs Blähen der Wangen, auf das kraftvolle Hinausblasen des Pfeils. Kaum flog das Geschoß davon, füllte er den zweiten Pfeil ins Rohr, verschoß ihn nach dem anderen Wächter.
Erst patschte sich der eine, dann der andere Mann eine Hand auf die Wange, die Augen quollen ihnen hervor, sie stießen erstickte Japser aus, sackten zusammen. Aituatea sprang hoch, sobald er den ersten Wächter taumeln sah, lief hin, war sich jedoch darüber im klaren, daß er nicht rechtzeitig genug zu ihnen gelangen konnte, um sie beide aufzufangen.
Vor den Füßen der zwei Wächter erhoben sich, jetzt wieder Kinder, die Gestaltwandler, fingen die Männer im Niedersacken ab, senkten sie leise zu Boden. Zur Geste der Beglückwünschung berührte Aituatea Stirn und Lippen. Das Paar grinste und nickte ihm mit den blonden Schöpfen zu, die im Dunkeln fahl schimmerten.
Aituatea stieg über einen ausgestreckten Wächter und betrachtete die Flügeltür genauer, führ mit den Fingern am Spalt in der Mitte entlang, fühlte die Tür unterm Druck der Hand geringfügig nachgeben. »Schwester«, flüsterte er, »welche Art von Riegel?«
Hotea wallte mit einem Teil ihrer Geistergestalt durch die Tür, wich zurück. »Drehbolzen. Du wirst den Zapfen durchsägen müssen.«
»In der Hoffnung, daß das Geräusch sie nicht weckt?« Verdrossen starrte Aituatea die vergoldete Sonnenscheibe an. »Schöne Hoffnung.« Brann tippte ihm an die Schulter. Er schrak zusammen. »Es wäre mir wahrlich lieber, du tätest das nicht dauernd.«
Sie überging seine Bemerkung wie eine Narretei. »Halt dich bereit!« raunte sie. »Yaril wird uns den Riegel öffnen, doch ihre Gegenwart in der Schlafkammer wird die Hexe wecken.«
Das Kind mit dem helleren Haar
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