Brann 02 - Blaue Magie
Simor, der im Herzen der Berge zu lesen verstand, entdeckte einen makellosen Kristall in der Größe seiner beiden Fäuste und brachte ihn seinem Vetter, einem Steinmetz, der daraus eine Kugel schnitt und sie schliff, bis sie so klar war wie reines Wasser; diese Kugel schenkte er Harra anläßlich der Geburt ihrer Tochter. Harra wußte, wie es hineinzuschauen galt, wollte man die Enden der Welt sehen, und vermittelte diese Fähigkeit ihrer Tochter. Es sei nicht schwierig, erklärte sie ihr, man brauchte lediglich in sich selbst Stille zu finden und in dieser inneren Stille dazu den Willen entstehen zu lassen: Wenn du die Gabe der Hellsichtigkeit hast — und da in dir mein Blut fließt, wirst du sie höchstwahrscheinlich haben —, kannst du darin alles sehen, was du sehen willst.
Um in den Besitz des Kristalls zu gelangen, Tochter Harras, begib dich in die verborgene Höhle jener Bergschlucht, wo Simor und Harra erstmals einander begegneten, die Höhle, worin das Gut des Angeketteten Gottes bewahrt wird. Finde in deinem Innern die Stille, und laß in dieser inneren Stille dazu den Willen entstehen, dann wirst du ersehen, wohin du die Schaumünze senden mußt.
Am Morgen wandte sich Kori an die Frauen des Piyoloss-Klans. »Amortis' Diener gafft mir nach. Ich habe Furcht.«
Die Frauen blickten sich wechselseitig an und seufzten. »Wir haben's beobachtet«, sagte die Kindertante nach längerem Schweigen. Sie musterte Kori mit auf lange Erfahrung gestützten Bedenken. »Hast du einen Vorschlag?«
»Mein Bruder Trago ist bald damit an der Reihe, mit den Herden auf die Hochalm zu ziehen, laßt mich statt Kassery ihn begleiten. Dort hinaus wagen der Amortisdiener und seine Schüler sich nie, ebensowenig die Krieger; ich könnte droben bis zur Zeit der Auslosung bleiben, so wäre ich fort aus seiner Umgebung, und sobald's soweit ist, daß das Los gezogen werden soll, kehre ich mit den anderen zurück ins Tal, und wenn das Los mich nicht trifft, wird's bloß noch 'ne kurze Frist dauern, bis es an der Zeit für meine Verlobung ist, und bin ich erst verlobt, wird selbst er es sich nicht trauen, Hand an mich zu legen. Ich sag' euch eins, sollte er mich anrühren, werde ich mir auf seiner Schwelle den Tod geben, und mein Geist wird ihm die Tage zum Jammertal und die Nächte zum Greuel machen. Das schwöre ich beim Geist meiner Mutter und den Ketten des Gottes.«
Die Kindertante forschte in Koris Miene, dann nickte sie. »Du tätest's wahrhaftig. Hmm. Mit dir hat's Dinge auf sich, die mir Anlaß zum Staunen liefern, Jung Kori.« Sie lächelte. »Ich bin's nicht gewöhnt, aus deinem Mund Reden zu hören, die an Klugheit grenzen. Ja, es könnte deine Ahnfrau sein — du weißt, welche ich meine —, die so spricht, du hast etwas von ihrem Scharfsinn, ihrem hitzigen Gemüt. Ich frage mich, was du wirklich vorhast, doch nein, ich werde dich nicht fragen, ich rate dir nur: Gib acht bei dem, was du treibst, du wirst dafür einstehen müssen, sei's in fleischlicher Gestalt oder als Geist.« Sie besprach sich mit den übrigen Klanfrauen. »Ich bin dafür, Kori mit Trago auf die Hochalm zu schicken, und zwar schon morgen. Wie lautet eure Meinung?«
»Deshalb hab' ich den Frauen erzählt, daß diese Natter Bak'hve auf mich scharf ist, na ja, 's stimmt ja auch, Tre, er ist mir nachgelatscht, die Zunge hing ihm bis auf die Knie, und ich hab' ihnen gesagt, daß ich mich vor ihm fürchte, und daß ich vielleicht sogar 'n bißchen ... bäääh, wenn ich ihn sehe, sträuben sich mir sämtliche Haare, und würde er mich anfassen, müßte ich mich übergeben. Auf jeden Fall, sie wußten's schon, und ich glaube, sie hatten bereits darüber nachgedacht, was man tun könnte. Nein, ich hab' die Kindertante nicht an der Nase rumgeführt, jedenfalls nicht sehr, bei den Ketten. Sie hat mir so gut wie ins Gesicht gesagt, daß sie weiß, ich hab' was vor. Aber's ist gleich, ich darf gehen, ihnen blieb fast gar keine Wahl, als es mir zu erlauben. Was ich ihnen erzählt habe, war völlig einleuchtend, es hat sie überzeugt.« Kori breitete die Arme nach den Seiten aus, hüpfte den Pfad entlang, kostete die zeitweilige Befreiung von den Beschränkungen aus, denen man sie seit dem Einsetzen ihrer Regel unterworfen hatte.
Trago schnitt ihr eine Fratze, tat dann selbst ein paar Hüpfer, als das Lastpferdchen, das er führte, ein Wuffen ausstieß und nach dem feinen blonden Haar schnappte, das der morgendliche Wind dem Knaben in Strähnen übers Gesicht
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