Brann 03 - Das Sammeln der Steine
gefährlicher, wenn ich Hunger verspüre. Nimm meine Hand, sag's mir, wenn die Zufuhr zu stark wird.«
Brann führte ihm Lebenskraft zu, bis er zu glühen begann und sie in ihrem Innern eine Art von hohlem Pochen fühlte, ein Anzeichen der Notwendigkeit einer gehörigen Stärkung. Als Jaril seine Hand zurückzog, faßte sie ihn an der Schulter. »Wenn du etwas beobachtest, was ich wissen sollte, teil's mir rechtzeitig mit, hmm?«
»Brombeer ...!«
»Ich weiß, ich muß dir so was nicht erst sagen. Also los, mach dich auf!«
Nachdem er sich entfernt hatte, entkleidete sich Brann, bis sie nur noch Unterhemd und Lendentuch trug, stopfte ihre Oberbekleidung und die Sandalen in einen wasserdichten Beutel und lief aus dem Hauseingang in den Regen. Sie eilte die Straße in gleichmäßigem, nicht zu anstrengendem Laufschritt entlang, ihre Füße patschten regelmäßig übers nasse Kopfsteinpflaster; sie hatte das Aussehen einer Greisin aufgegeben, wieder ihre eigentliche Gestalt angenommen. Der Regen schlug ihr ins Gesicht, blendete sie halb, doch das kümmerte sie nicht, es gab ohnehin wenig zu sehen. Die Mehrzahl der Straßenlaternen war erloschen, entweder vom Regen oder vom Wind gelöscht worden. Klatsch-klatsch. Ohne Zögern strebte Brann weiter, ihr war wohler zumute, weil das Warten vorbei war, sie fühlte sich wohl, weil ihr Körper einem Gebilde aus Feuer und Eisen glich, er bewährte sich so zuverlässig wie ein feiner Zeitmesser, er lebte, lebte, erwies sich als durch und durch lebendig.
Vor dem Doulahar sprang sie am Torhäuschen vorbei, an dem eine mit Glas geschützte Lampe gerade genug Helligkeit verbreitete, um Brann zu zeigen, wo sie sich befand. Sie verlangsamte ihre Geschwindigkeit, huschte dicht an die Umfassungsmauer und daran entlang bis um die nächste Ecke, hinter der sie die Lampe nicht mehr sehen konnte. Sie wickelte das mitgenommene Seil von ihren Hüften, schwang mehrmals das Ende mit den Haken, schleuderte es schließlich in die Höhe. Die Haken fanden Halt. Sie zerrte am Seil. Es hielt. Sie erklomm die Mauer, hakte das Seil andersherum fest, kletterte an der Innenwand der Mauer hinab, sank bis über die Fußknöchel ins morastige Erdreich eines Blumenbeets ein. Das Seil ließ sie, wo es hing, rannte zum Haus, indem sie über niedrige Hecken hinwegsetzte, durch weitere Blumenbeete stapfte, schwungvoll um Ziersträucher bog, die sie kaum zu erkennen vermochte, unterwegs wie eine Närrin vor sich hinkicherte, sich auf so übermütige Weise begeistert fühlte, wie sie es seit einem Jahrhundert oder länger nicht mehr empfunden hatte.
Sie warf die Hände auf die steinerne Brüstung der Terrasse, übersprang sie mit einem Satz, hastete über die nassen, schlüpfrigen Fliesen, auf denen ihre Füße hörbar klatschten, zudem keuchte sie wie eine wacklige Schindmähre nach ihrem letzten Galopp, doch darum scherte sie sich nicht, der Wind heulte, der Regen rauschte nur so vom Himmel herunter, das Unwetter toste laut genug, um den Lärm einer Viehherde, erst recht also Branns vergleichsweise verhaltene Geräusche zu übertönen.
Als sie vor der Reihe von Glastüren stand, hob sie den Blick in die nächtliche Düsternis, lauschte auf etwaige Hinweise Jarils. Aber er blieb stumm. Das war immerhin ein gutes Zeichen. Brann stellte den Beutel ab, kramte in einer Außentasche und entnahm ihr einen Handschuh; dessen Oberseite wies zur Verstärkung Eisenplättchen auf, und an den Fingerspitzen saßen krumme Eisenkrallen. Sie zog den Handschuh an die Linke, zerschlug eine Glasscheibe, langte hindurch und entriegelte die Tür.
Sobald sie sich ins Innere des Hauses geschlichen hatte, schloß sie die Tür, verriegelte sie und verstopfte das Loch in der Scheibe mit einem Ballen Stoff. Im Haus war es stockfinster wie in einem Kohlenkeller, eiskalt und still, die dicken Mauern und die schweren Vorhänge an den Türen dämpften das Getöse des Sturms. Brann verließ sich vollständig auf ihren Tastsinn, während sie den Handschuh auszog, auf dem Teppich ablegte, sich der feuchten Kleidungsstücke entledigte und statt dessen die trockenen Sachen aus dem Beutel überstreifte. Sie rieb sich an einem Vorhang Füße, Hände und Kopf ab, gründlich genug, um auf der Treppe nicht zu triefen und sich womöglich durch Getropfe zu verraten. Einen Augenblick lang zögerte sie; dann schob sie den Beutel hinter einen Vorhang. Ihre Hände waren ihre besten Waffen, ihre bloßen Hände. Es hatte keinen Sinn, Gegenstände mit sich
Weitere Kostenlose Bücher