Brann 03 - Das Sammeln der Steine
Die größte Ausbeulung des Ranzens verursachte ein dicker, gestrickter Wickelrock. Kori überlegte für ein Weilchen, dann holte sie den Wickelrock heraus — wenn auch zögerlich — und warf ihn auf die Traumdecke; an einer Lungenentzündung zu sterben, wäre keine wünschenswerte Folge der kleineren Unbilden, die sie erdulden mußte. Sie riß eine Handvoll trockenes Gras aus und begab sich zwischen die Bäume, um ihre Blase zu leeren; nachdem sie fertig war, wusch sie sich im Bach die Hände, nahm dabei Sand statt Seife.
Sie nahm wieder auf der Decke Platz, überkreuzte die Beine in der richtigen Weise und schlang sich den Wickelrock um die Schultern.
In der Ferne rief eine Eule. Kori dachte an den Greis, überlegte verschwommen, wer oder was er sein mochte. Eine sonderbare Verstofflichung der Erdseele, aus dem Untergrund hervorgebracht, so wie das Zusammenwirken von Erde und Tau Steine an die Erdoberfläche beförderte? Oder ein Wesen, das so alt war wie der/die alte Tungjii, vielleicht sogar mit ihm/ihr verwandt? Älter als die Götter, älter als das Erdreich, auf dem sie saß? Oder das Angesicht des Berges selbst? Lag ihre Traumdecke auf sein Fleisch gebreitet? Kori vollführte Regungen des Mißbehagens, ihr wurde bei dieser Vorstellung mulmig zumute. Sie dachte über den Alten nach, über den Berg und Geidranay, Tungjii und ihren Bruder, über Maksim und seine etlichen besonderen Eigenarten, die Frage, ob er es schaffen könnte, seine Vorurteile in bezug auf Stand und Geschlecht zu überwinden und sie zu seiner Schülerin zu machen. Sie wünschte sich regelrecht heftig, seine Schülerin zu werden; durchs Lernen und durch Erfahrung wußte sie jetzt, was sie nur geahnt hatte, als sie ihn das erste Mal sah: Niemand kam ihm gleich. Wenn sie bei ihm lernen dürfte ... wenn er sie lehrte, fürchtete sie sich vielleicht nicht so sehr vor dem, was sie bisweilen in ihrem Innern erblickte, vor dem sie floh wie eine errschrockene Maus, sobald sie darauf einen Blick erhaschte.
Der Wickelrock wärmte sie; indem sie sich allmählich wohliger fühlte, wurde sie schläfrig, und in dem Maße, wie sich das Nachtdunkel vertiefte, drohte der Schlaf sie zu überwältigen. Der Wunde Mond, der sich als praller, eingekerbter Halbmond zeigte, hatte bereits hoch am Himmel gestanden, als die Sonne sank; sein schwaches Licht fiel sanft auf die kleine Weide, ein kühler, fahler Helligkeitsschein, der dem Gras und den Bäumen alle Farbe zu entziehen schien, Korimenei und ihre Decke in schemenhafte, feine Schwarzweißumrisse verwandelte. Über dem Bächlein flatterten Nachtfalter durch verschlungene Kreise, ließen ihr helles leises Schwirren vernehmen. Da und dort sausten Glühwürmchen umher, zogen hellgelbe Leuchtstränge durch die Nacht, verliehen der Umgebung die einzige Farbe. Auf der anderen Seite des Bachs kam unter den Bäumen eine weiße Hirschkuh hervor. Für ein längeres Weilchen betrachtete das Tier Korimenei, in seinen Augen eine Tiefe wie von Erdfeuer und einen Ausdruck stummer bedrohlicher Warnung, und Kori spürte, wie sie in diesen Augen zu ertrinken begann. Da drehte die Hirschkuh den Kopf, wandte den Blick ab; so lautlos, wie sie sich genähert hatte, entschwand sie in den tintenschwarzen Schatten unter den Kiefern.
Ein Bruchstück eines alten Lieds kam Korimenei in den Sinn, eines der Lieder Harra Hazanis, die im Verlauf der vielen, langen Jahre, seit sie sich im Owlyner Tal niedergelassen hatte, gemeinsam mit einer anderen Gabe von Tochter zu Tochter vererbt worden waren; auch Kori war diese Gabe angeboren, nämlich Harras Gehör für Tonhöhen, Klang und Gleichmaß; lange hatte sie vermutet, daß diese Gabe ein wesentlicher Bestandteil ihrer Veranlagung zur Magie sein könnte, und als sie an Maksims ungewöhnliche Stimme dachte, war sie sich endgültig sicher. »Ich bin die weiße Hirschkuh«, flüsterte sie in die Nacht; es schien ihr, als ob die Dunkelheit ihr wohlgesonnen sei und sie ermutigte, also fing sie das Lied laut zu singen an. Sie sang es nicht vollständig, es besaß Hunderte von Zeilen und war für drei Stimmen, die Weiße Hirschkuh, den Goldenen Hirsch und das Rehkitz: Die Hirschkuh ergriff das Wort, der Hirsch antwortete, und das Kitz stellte beiden Fragen. Korimenei erhob ihre Stimme und sang die folgenden Zeilen.
»Ich bin die Weiße Hirschkuh,
flinken Hufs und unbesonnen.
Meine Füße erkennen die Nacht,
und schweigsam ist mein Lauf.
Mein Schweigen ruft zu mir
den freien und
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