Brann 03 - Das Sammeln der Steine
Bis dahin werde ich völlig am Ende sein. Warum tu ich mir so etwas an?
Sie spülte den Becher, füllte ihn ein zweites Mal und nahm ihn mit zur Traumdecke. Sie ließ sich auf dem Traummuster nieder, stellte den Becher neben sich und brachte ihre langen Beine in die richtige Haltung. Zehn Jahre waren verstrichen, während sie die Beherrschung ihrer Gabe erlernt hatte. Das ist alles, wozu dir die Schule verhelfen kann, hatte Maksim ihr einmal erläutert, Beherrschung. Und vielleicht zu erweiterten Möglichkeiten. Vielleicht. Nun konnte sie den Wahrheitsgehalt seiner Äußerungen bezeugen. Beherrschung und die Grenzen des Beherrschens. Sie sagte sich, daß sie ihre Grenzen kannte, versicherte sich, ein gewisses Maß an Meisterschaft in ihren Fähigkeiten und in der Anwendung ihrer Kräfte errungen zu haben. Bis jetzt hatte sie jede Prüfung bestanden, aber mit jedem neuen Schritt der Weiterentwicklung ergaben sich neue Gefahren. Sie bezweifelte, daß es für sie noch viel zu lernen gab; die beiden letzten Jahre hatten der Festigung dessen gegolten, was sie in den vorherigen acht Jahren aus sich gemacht hatte. Sie mochte nicht glauben, daß irgendwo in der Welt noch mehr Macht vorhanden sein könnte, die anzuzapfen war; sie fürchtete sich davor, etwa wildere, bedrohlichere Quellen der Kraft anzutasten. Im Laufe der zehn Jahre ihrer Ausbildung hatte sie einige Male so gefahrvolle Aufgaben verrichtet, daß die Gewalten, mit denen sie wirkte, sie zu verschlingen drohten. Jedesmal hatte sie sich bewährt, obwohl es jedesmal schlimmer als beim vorigen Mal ablief, sie jedesmal dem Untergang näherstand, und daraus hatte sie Lehren gezogen, die sie sich sehr zu Herzen nahm. Gegenwärtig plagte eine quälende Unsicherheit sie, die Befürchtung, sie könnte, wenn sie das nächste Mal das Feuer der Magie anrührte, zu schwach sein, zu Tode kommen, oder möglicherweise, was ärger wäre als der Tod, selbst zur Beherrschten werden.
»Trago«, sagte sie laut. »Komm und sprich mit mir.« Sie wartete, die Hände in die Hüften gestemmt, ballte sie wiederholt zu Fäusten und lockerte sie, ihre kurzen, zerkerbten Fingernägel schrammten ungleichmäßig übers Segeltuch der Hose. Er zeigte sich nicht. Sie wußte nie, ob er sie hörte, wenn sie ihn rief; manchmal erschien er, manchmal nicht. Dies war offenbar einer der letzteren Fälle. »Verdammt.« Wäre Trago nicht in Kristall eingeschlossen, in dem er in Träumen ruhte, sie wäre schon längst fortgelaufen und hätte darauf gebaut, dank ihrer natürlichen Schläue in Freiheit bleiben zu können. Aber er war die Fessel, die sie an Shahntien Sheres Gnade band, und deshalb mußte sie den ganzen albernen Schwank bis zum Ende mitspielen.
Ich habe dafür gesorgt (hatte Maksim gesagt), daß sein Gott ihn nicht erreichen kann. Würde ich ihn töten, Kind, nähme einfach ein anderer seinen Platz ein. Und danach wieder und immer wieder ein anderer, und ich müßte jeden von ihnen umbringen. Was wäre also der Sinn ? Er wird nur schlafen, schlafen, schlafen ...« (Maksim hatte den Kopf gewandt und sie angelächelt.) »... bis du kommst, kleine Kori, bis du kommst und deine Berührung ihn weckt, nur du allein bist dazu imstande ... Er ist in der Höhle des Angeketteten Gottes. Falls du jemals wieder dort hingelangst, Kori, brauchst du nur den Kristall anzufassen. Er wird zerschmelzen, und der Knabe wird erwachen. Doch niemand außer dir vermag diese Wirkung auszuüben. Niemand, ob Gott oder Mensch. Nur du.«
Kori kratzte sich an der Nase. Am liebsten, dachte sie, würde ich mich überall kratzen. Im ersten Jahr war ich besser als jetzt zur inneren Versenkung fähig. »Tre«, sagte sie, »schau mal her, ja?«
Nichts. Offensichtlich beschäftigte er sich mit anderen Angelegenheiten, mit Dingen, die wichtiger waren als eine seit langem von ihm getrennte Schwester. Ungeduldig bewegte sie ihren Körper. Jahrelang hatte er ihr über die Schulter geschaut, dasselbe wie sie gelernt, bisweilen sogar gequengelt, wenn er irgend etwas zu erfahren wünschte, mit dem sie sich gerade nicht befaßte. In den ersten Jahren hatte sie sich dem Lernen wie eine Besessene gewidmet. Das sei so, hatte sie geglaubt, weil sie so bald wie möglich fort wollte, um ihren Bruder zu befreien. Sie mußte lernen, sich daran gewöhnen, auch unter den gefährlichsten Umständen geschwind und wirksam zu arbeiten, sie mußte einen Weg finden, um Shahntien Shere zu überlisten, damit sie nicht von ihr drangsaliert wurde. Um
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