Brann 03 - Das Sammeln der Steine
den Rang der beiden Mädchen, öffnete das Mannpförtchen und gewährte ihnen Zugang in die Stadt.
Bei der Straße vor der Schule handelte es sich um ein gepflastertes Durchgangssträßchen, das sich zwischen den grünen Spitzen feingliedriger Mimosen dahinwand, die vor Mauern gediehen, hinter denen die Prachthäuser der bedeutendsten und reichsten Hina-Händler standen. In den herabgeneigten Zweigen hingen wie Spinnweben Geister; sobald sich ein Fußgänger näherte, regten sie sich, verfielen in Zuckungen, huschten aus dem Geäst und umflatterten die Köpfe der Vorübergehenden; sie versuchten ihre Klagen herauszuschreien, brachten jedoch nur ein hohes, aufdringliches Winseln hervor, wie man es vielleicht an einem heißen Sommerabend von einem Schwärm Stechmücken hören konnte. Obwohl sie es ablehnten, die Toten fortzuscheuchen, weil sie Geisteraustreibung als eine Art von Mord bewerteten, belegten die im Tempel tätigen Kula-Priester die widerspenstigen Geister jedes halbe Jahr mit einem Schweigebann. Die Kaufleute mußten die Unannehmlichkeit der Belästigung durch diese wahrhaftigen Plage- und Rachegeister erdulden (jeder wußte, daß Erdseelen nur solche Lebenden verfolgten, die ihnen oder ihren Verwandten etwas angetan hatten), entgingen hingegen ärgerer Bedrängnis, indem sie die Kula-Priester für die regelmäßige Erneuerung des Schweigebanns bezahlten. Indem sie die teils mehr, teils weniger verblaßten Seelen einfach mißachteten, schlug Korimenei die Richtung nach Norden ein, zum Tempelplatz.
»So.« Firtina faltete die Hände auf dem Rücken und schaute zu Korimenei auf, die mehr als um einen Kopf größer war als sie. »Wirst du dir einen Meister suchen, oder hast du längst einen gefunden, oder sollte ich lieber gar nicht danach fragen?«
»Das weiß ich alles selbst noch nicht. Damit verhält's sich geradeso wie mit dem Heimkehren, irgendwann — früher oder später — muß es sein, aber eilig hab ich's nicht.« Kori verzog den Mund zu einem verschmitzten Lächeln. »Immerhin muß ich als erstes ja dich besuchen, und du wirst noch für ein halbes Jahr oder länger nicht daheim sein.«
»Ooh, ooh, ooh«, johlte Firtina. Sie kniff Korimenei in den Arm und tänzelte beiseite, als Kori nach ihr drosch, wirbelte herum und tanzte nun rückwärts die Straße entlang. »Und wo wirst du dich herumtreiben, während ich darauf harre, daß du deine Drohung wahrmachst? Im Norden oder Süden?«
»Ich glaube, ich werde für 'n Weilchen in den Süden gehen, vielleicht nach Kukurul.«
»Dann brauchst du leichte Kleider.« Firtina wartete, bis Korimenei sie eingeholt hatte, schritt dann wieder neben ihr aus. »Baumwolle und Seide, nichts was dich zum Schwitzen brächte.«
»Tja...« Aus Unbehagen vollführte Korimenei ein paar Zappelbewegungen; ihr war es zuwider, ständig ausweichende Antworten geben zu müssen, aber was blieb ihr anderes übrig? »Ich denke mir, ich schaffe mir besser auch einige Wintersachen an. Im Süden gibt's auch Berge, mich zieht's in die Berge, und in Bergtälern kann's selbst im Süden kalt werden, ist erst einmal der Winter da.«
»Mmh-hmm. Pelz?«
»Das wäre übertriebene Verschwendung. Gute Wolle und Seide werden genügen.« Mehrere Schritte weit dachte sie über die Zweckmäßigkeit von Pelzkleidung nach, schüttelte schließlich den Kopf, ihre sanftgeschwungenen Locken flogen. »Nein, bestimmt keinen Pelz.« Sie senkte eine Schulter abwärts und berührte sachte die Ausbeulung der Seitentasche, in der Ailiki schlief.
Durch von Schatten gesprenkelte Stille setzten sie den Weg fort, ohne zu reden; so hoch am Berg vernahm man keinen Stadtlärm. Das Knarren ihrer Sohlen auf den Pflastersteinen, das leise Rascheln der Mimosenzweige und Gequieme der Geister betonten lediglich die Friedlichkeit der Durchgangsstraße. Heute war einer jener goldenen Herbsttage, an denen die Luft sich wie Seide anfühlte und wie ein Dufttopf roch, etwas enthielt, was das Blut zum Brausen und die Füße zum Tanzen brachte.
Aus der Stille der Straße gerieten Korimenei und Firtina in die Geschäftigkeit und den Krach des Tempelplatzes wie Badende, die sich langsam ins Meer vorwagten. Zwar beging man heute keinen der höheren Festtage, aber Feiernde, Wallfahrer, Pilger in großer Zahl sowie Händler, die einen Segen wollten, die nach ihren Frachtlieferungen oder Auskünften über verspätete Schiffe forschten, Mütter mit ledigen Töchtern, die zu Ehren Tungjiis und Jah'takashs Braut-Pavanen
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