Brans Reise
Pfeil direkt ins Herz des Vandarers gelenkt hatten. Dann sah er zum Himmel auf.
»Soll der Rabe fressen, was der Pfeil getötet hat.« Er sagte das zu sich selbst, zu Keer und der Stille, die über den Hügeln lag. Dann ließ er den Toten im Schnee liegen und kletterte auf die nächste Anhöhe. Dort wandte er sich nach Osten. Der letzte Vandarer würde berichten, was geschehen war. Er konnte nicht zur Küste zurück, ehe er das Land des Feindes verlassen hatte.
Die Frau mit dem Mal
S echs Tage wanderte Bran über die Hügel. Die Kälte kümmerte ihn nicht, denn wenn es zu dämmern begann, suchte er in den Talsenken Schutz und zündete mit seinem Flintstein ein Feuer an. Er hielt sich warm unter seinem Pelzumhang und den Kleidern, die er dem toten Vandarer abgenommen hatte, und starrte in die emporlodernden Flammen, wie es die Jäger tun. Nach den langen Tagesmärschen durch den hohen Schnee schlief er rasch ein, doch nicht einmal dann wichen die Schmerzen von ihm. Denn jetzt quälte ihn der Hunger. Es war nicht mehr nur das flaue Gefühl im Magen, sondern strömte wie Gift durch sein Blut. Wenn er des Abends zu einer trockenen Birke schwankte, umklammerten seine Hände den Schaft der Axt nur noch schwach, und jeder Hieb bedurfte all seiner Kraft. Er wusste, dass er mit jedem Tag langsamer ging, und auch, dass er es nicht mehr lange aushalten würde, wenn er nicht bald eine Beute für seinen Pfeil fand.
Das getrocknete Fleisch hatte nur bis zum ersten Abend gereicht. Wo die Talböden flach waren, hoffte er auf Moore unter dem Schnee, aber er fand keine süßen Wurzeln. Zweimal stieß er auf Ameisenhaufen. Er grub sich tief in die Tannennadeln hinein, bis in die Kammern, in denen die Insekten Schutz gesucht hatten. Dann stopfte er seinen Leinenbeutel mit Ameisen voll, steckte eine Hand voll in den Mund und ging weiter. An diesen Abenden erbrach er sich am Feuer, denn die Insekten waren sauer wie unreife Früchte.
Am siebten Tag entdeckte er einen Steinwall auf der Spitze eines Hügels. Er reichte ihm bis zur Hüfte, und die Steine unter dem Schnee waren von Flechten bewachsen. Er folgte dem Wall mit den Augen nach Ost und West und erkannte, dass er das Ende des Hügellandes erreicht hatte. Einen Pfeilschuss südlich des Steinwalls fielen die letzten Hügel in eine locker bewaldete Ebene ab. Und dort, unmittelbar vor einem Fichtenstamm, sah er, nach was er so lange gesucht hatte. Schatten im Schnee. Hasenspuren.
Bran rannte das letzte Stück ins Flachland hinunter. Als er endlich die Fährte des Hasen erreicht hatte, beugte er sich über sie und schob seine Finger in die Abdrücke, die die Hinterbeine des Tieres zurückgelassen hatten. Der Schnee war locker, war noch von keinem Nachtfrost gehärtet worden. Der Hase konnte nicht weit entfernt sein.
Er legte den Pfeil an die Sehne und folgte den Spuren zwischen den Bäumen hindurch. Der Wald war hier anders, doch das bemerkte Bran kaum. Speichel rann ihm über die Mundwinkel, und er schnupperte in die kalte Luft. Der Wind stand günstig, er blies ihm entgegen, und Bran roch bereits den Duft von gebratenem Hasenfleisch. Er schmeckte es zwischen den Zähnen.
Die Spuren führten direkt zu einer vom Wind umgeworfenen Birke. Die Rinde zeigte Nagespuren, und im Schnee lagen Hasenköttel. Bran hockte sich hin und zerrieb den Tierkot zwischen seinen Fingern. Er war warm.
Bran kroch unter zwei Zweigen hindurch, die schwer vom Schnee über die Spuren herabhingen. Auf der anderen Seite öffnete sich der Wald zu einer Lichtung, und dort saß er. Nur die Schnauze und die Augen waren zu erkennen, der Rest war ebenso weiß wie der Schnee. Bran würgte den Speichel hinunter, der in seinem Mund zusammenlief, und schob den Pfeil auf der Sehne zurecht. Dann stand er auf und zog den Pfeilarm zum Kinn. Der Hase sah ihn an. Er flieht nicht, dachte Bran. Er versteht, was geschehen wird.
Da schrie der Rabe. Der Hase sprang auf und verschwand zwischen den Bäumen. Bran schrie wie ein Mann voller Furcht. Er rannte auf die Lichtung, zielte auf das Halbdunkel zwischen den Bäumen, doch der Hase war verschwunden. Erneut schrie der Rabe. Bran drehte sich rasch um, erblickte den schwarzen Vogel und schoss den Pfeil ab. Der Rabe flog auf. Der Pfeil klatschte gegen den Baumstamm. Er hörte, dass er durch die Äste nach unten fiel. Und der Rabe schrie hoch oben am Himmel.
An diesem Abend machte er kein Feuer. Er kroch unter eine Fichte und sank mit dem Rücken am Stamm zusammen.
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