Brans Reise
Zweigen, die im Wind wehten. Das wunderte ihn, denn er hatte seit vielen Tagen keinen Windhauch mehr verspürt.
Das Rauschen wurde stärker. Er nahm die Axt von seinem Gürtel und richtete sich ein wenig hinter dem Stein auf. Hinter dem Höhenzug war kein Lager, nur der ewige Schnee und noch mehr Bäume.
Doch das Rauschen wurde stärker, und es schien von einem Ort hinter den Bäumen zu kommen. Er stapfte den Hang hinunter. Jetzt spürte er den Wind. Es war so ein Wind, wie es ihn im offenen Land gab. Ein freier Wind. Er schob die Zweige beiseite und trat zwischen den Stämmen hindurch. Es war ein Wind der Ebene.
Das Land öffnete sich vor ihm. Eine weite, baumlose Ebene. Sie erstreckte sich so weit er sehen konnte und sah in all ihrer Einsamkeit so friedlich aus. Doch der Wind trug den Laut vieler Hufe mit sich. Bran trat in den Wald zurück. Und da sah er die Reiter, die nur ein paar Pfeilschüsse links von ihm aus einer Senke oder einem Tal herausritten. Fast schien das ganze Heer aus dem Untergrund emporzuquellen, doch er erkannte die Kettenhemden und ihre runden Helme. Es waren Vandarer. Bran sank hinter den Stämmen zusammen. Die Krieger sahen wie die Männer im Traum aus. Sie hatten ihre Bogen am Sattel befestigt und hielten die Speere in den Händen. Über den Schultern trugen sie Pelze, und die Sonne blinkte auf ihren Schwertschäften und Schilden.
Auf der Ebene lag der Schnee nicht so tief wie im Wald. An einigen Stellen hatte der Wind den Schnee fortgeblasen, und Steine und welkes Gras ragten durch das Eis empor. An anderen Stellen gab es hohe Schneewehen, doch die Vandarer hatten keine Zeit, um sie herumzureiten. Sie gaben den Pferden die Sporen und zwangen sie weiter. Die Tiere schnaubten, und ihr weißer Atem umgab das ganze Heer. Die Krieger sprachen nicht miteinander, sondern spähten die ganze Zeit nur nach vorne.
Das Reiterheer war rasch an ihm vorübergeritten. Die Vandarer folgten dem Waldrand in Richtung Sonnenuntergang. Richtung Westen, dachte Bran. Sie reiten Richtung Westen in eine Schlacht.
Er wartete, bis sie außer Sichtweite waren. Dann ging er in die Fährten der unzähligen Hufe und begann, nach Osten zu wandern. Sie waren so viele gewesen. Irgendwo mussten sie gegessen haben. Irgendwo dort vorne mussten die Pferde geruht haben. Bran sah in den Wald. Er hatte das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden. Augen, ebenso schwarz wie das Dunkel zwischen den Stämmen, folgten jedem seiner Schritte.
Noch eine Nacht und einen Tag kämpfte sich Bran über die Ebene, doch er sah keinen Rauch oder andere Lebenszeichen, abgesehen von den Spuren, die die Pferde der Vandarer hinterlassen hatten. In der zweiten Nacht trieben Wolken unter die Sterne, und es begann zu schneien. Bran packte seine Axt und schlug auf die Schneeflocken ein, und er verfluchte die Götter aller Völker für das Unglück, das sie über ihn brachten. Er hatte eine Gelegenheit bekommen, nach Hause zu finden, doch jetzt ließen die Götter die Spuren der Vandarer zuschneien. Deshalb verspottete er sie, denn er vermochte nicht mehr zu beten.
»Warum bestraft ihr mich?« Er sprach mit dem Schnee und mit sich selbst, während er gebeugt gegen den Wind weiterging. »Was habe ich getan?«
»Ja…« Er reckte die Arme zum Himmel. »Kragg, du, der du deine Schwingen über dem Himmel breitest und uns die Nacht bringst, bist du es, den ich betrogen habe? Du, der du mir den Kurs in das neue Land gezeigt hast, strafst du mich dafür, dass ich mein Volk verlassen habe?«
Bran hörte seine eigene Stimme, und ein Teil von ihm schämte sich. Er rief und heulte wie ein Verrückter. Und vielleicht bin ich verrückt, dachte er. Der Hunger hat mich verrückt werden lassen.
»Ich habe sie verlassen!« Er lachte. »Ich habe ihnen so viel versprochen. Hagdar! Er ist von mir gegangen, nicht wahr? Ich habe sie alle betrogen!«
Der Schnee wehte, getrieben von mächtigen Böen, über ihn hinweg. Da spürte er die Krallen wieder. Sie packten ihn über seinem rechten Auge und drückten zu. Das war mehr, als er ertragen konnte. Er stürzte in den Schnee.
Bran blieb liegen und starrte nach oben in das graue Dunkel und auf die Schneeflocken, die im Wind tanzten. Er ließ sie auf Stirn und Augen fallen. Als sie schmolzen, schloss er die Augen und ließ sie wie Tränen in das gefrorene Meer rinnen, das ihn umgab. Er legte den Kopf zur Seite und blinzelte wie durch einen Nebelschleier auf seine Hand, die halb im Weiß begraben lag. Es war seine
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