Brans Reise
Hand, doch er konnte sie nicht spüren.
»Bran…« Sie rief ihn. Sie saß dort, im Licht, dicht bei seinen Fingerspitzen. Wie warm das Licht war. Er hörte das Knistern des Feuers.
»Tir?« Er streckte ihr die Hand entgegen und kam ins Warme. Sie saß bei den Flammen. Er sah ihr Haar, das sich über ihren schmalen Schultern teilte, den Umhang auf ihrem Rücken, das wollene Gewand und ihre Füße. Sie waren nackt und lagen wunderbar weich auf dem Schafsfell. Und ihr Gesicht – es war eingerahmt im Licht des Feuers. Sie lächelte. Er berührte ihren Hals.
Da verschwand sie. Die Wärme verließ ihn, und er lag wieder im Schnee. Der Wind brüllte ihn an. Er war wie Krieger, die sich über seinem Körper zusammendrängten. Sie hackten mit Äxten aus Eis auf ihn ein. Er zitterte unter ihren Schlägen. Er hielt sich die Hände vors Gesicht und versuchte sich zu schützen, doch die Finger zitterten und waren tot, weiße Krallen.
Dann war auch das vorüber. Die Äxte ließen ihn in Frieden, und alles, was er spürte, waren seine eigenen Atemzüge. Er lag auf der Seite und sah ins Schneetreiben. Wellen, dachte er. Wellen aus Eis.
Bran lauschte dem Wind. Erst jetzt verstand er, was Turvi meinte, wenn er sagte, dass der Wind singt. Denn jetzt waren die vier Stürme voller Kraft; bald würden sie ihm die Seele aus dem Leib reißen und sie mit sich nehmen. Er war wie ein Blatt im Herbst, und nichts konnte ihn mehr am Boden halten.
Da hörte er die Stimme, und der Atem stockte in seiner Brust. Sie war wie das Rauschen eines mächtigen Waldes, und sie erklang vom Himmel und aus dem Boden unter ihm.
Bran…
Eine Gestalt bewegte sich im Dunkel. Schneeflocken teilten sich über dem Geweih und den gewaltigen Schultern. Bran versuchte aufzustehen. Er hatte Angst. Er sah, wie ihn das Geschöpf dort draußen umrundete, er sah die nackten Arme und die Spitzen des Geweihs.
Da trat der Riese aus der Nacht. Nebel quoll aus seinem Mund.
Bran… Seine Stimme klang wie Eisen, wie kreischende Schwerter.
Bran starrte in das Gesicht des Riesen. Er sah das breite Kinn und die zwei Furchen, die sich von den Wurzeln des Geweihs an den Augen entlang nach unten erstreckten. Und er sah die Tränen.
Vater… Der Riese sah auf, und der Schnee fiel um ihn herum und verbarg ihn. Er streckte die Arme zur Seite und öffnete seine Hände. Blut rann aus der einen, Wasser aus der anderen.
Träume… Wieder war seine Stimme das Rauschen vieler Bäume. Du träumst meine Träume.
Die Stimme erstarb mit dem Wind. Die Böen wirbelten den Schnee auf, und als Bran das Eis aus den Augen rieb, war der Riese verschwunden.
»Cernunnos!« Er stand auf und stapfte in den Sturm hinein. »Wer bist du?«
Nur der Wind antwortete ihm, doch er sah jetzt etwas, ein Licht, einen Schatten, dort vor ihm im Schnee. Und er roch Feuer. Rauch lag im Wind, Rauch und der Geruch von Menschen.
Bran kämpfte sich weiter, denn seine kalten Beine wollten ihn nicht länger tragen. Er kroch dem Licht entgegen. Der Schatten wuchs vor ihm in die Höhe. Es war eine Wand aus Stämmen. Eine Hütte.
Als er sie erreichte, krallten sich seine Finger an den Stämmen fest und begannen sich zu einer Öffnung vorzutasten. An einem Balken fand er Halt, während seine Finger dahinter flach gesägte Bretter spürten. Das war eine Tür. Er wälzte sich über eine Schneewehe und erhob sich unter einem Eisenring. Doch die Tür wollte sich nicht öffnen.
Er schlug mit der Faust auf die Bretter ein und tastete mit der anderen Hand nach seiner Axt. Als er sie unter dem Gürtel hervorgezogen hatte, rutschte sie aus seinen steifen Fingern. Er sank in die Knie, legte sie in seinen Schoß und lehnte sich gegen die Tür, während seine Beine damit kämpften, das Gewicht des restlichen Körpers zu tragen.
Da gab die Tür nach. Gemeinsam mit der halben Schneewehe stürzte er nach innen und landete auf einem Holzboden. Dann fiel die Tür wieder zu, und der Wind, die Kälte und all das Böse waren verschwunden.
Bran ließ die Axt fallen und drehte sich auf den Rücken. Fünf alte Frauen standen um ihn herum. Sie trugen Kleider und dicke Wolljacken und betrachteten ihn mit ernsten Mienen. Vier von ihnen hatten langes, schwarzes Haar und goldene Ringe in den Ohren. Die letzte hatte rote Haare.
Er begann zu krabbeln. Im Kamin auf der anderen Seite des Raumes war Glut. Ein junges Mädchen saß dort, und ihr Blick huschte beständig von den Frauen zu ihm und wieder zurück.
Mit einem Mal begannen die
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