Brasilien
geschmeidig anzupassen. Wie ein schwerfälliges Tier, das reflexhaft auf sein Futter zukroch, strebte die Fabrik mit allen ihren Mitarbeitern auf den Markt; unterdessen machte es sich die Regierung mit ihrem drückenden Gewicht auf dem Rücken dieses Tieres bequem, und die Inflation versuchte, Fangschlingen um seine Füße zu legen. Einige der leitenden Angestellten fungierten als Schnittstelle zum Markt – die Mode- und die Werbeexperten und die Vertriebsabteilung mit ihren Repräsentanten beim Groß- und Einzelhandel –, und andere waren die Ansprechpartner der Regierungsstellen, die Steuern herauspreßten, die Preise überwachten, Sicherheits- und Umweltschutzvorschriften erließen und Bestechungsgelder kassierten. Wieder andere hielten die Verbindung zu den Technikern und dem Maschinenpark, der gewartet, umgebaut und durch immer neuere, mit noch mehr Elektronik vollgestopfte, noch automatischere Anlagen ersetzt werden mußte. Und Tristão war, wie sich bald herausstellte, als Verbindungsmann zu den Arbeitern und den Gewerkschaften vorgesehen.
Was ihn für diese Aufgabe empfahl, war eine gewisse soziale Neutralität, die er mit seiner zurückhaltenden Würde, der ernsten, hohen Stirn und den unerwartet dunklen Augen ausstrahlte, in denen die Iris melancholisch mit der Pupille verschmolz. Obwohl er weiß war, claro, und das auf fast unnatürliche Weise, so als hätte seine Haut noch niemals einen Sonnenstrahl gesehen oder wäre willentlich gebleicht worden, fehlte ihm der Oberklassenakzent der Paulistas, bei dem die Arbeiter und deren Führer unwillkürlich rot sahen. Er hatte nichts von der trägen, wehleidigen Arroganz der filhos do poder; tatsächlich wirkte er herkunftslos, niemandes Sohn, der sich den Klagen der Arbeiter und den Vorschlägen der Gewerkschaft zur Beseitigung von Ungerechtigkeiten und Engpässen mit Ernst und Anteilnahme widmete wie ein Suchender in einem Labyrinth, dem der Ariadnefaden des Vorurteils fehlt. Die ganze moderne Welt mit ihrer Logik kam ihm wie ein Labyrinth vor, durch das er sich Schritt für Schritt seinen Weg bahnen mußte. Er war geduldig. Er war nie herablassend. Obwohl er sich in die quälende Monotonie der Arbeit in den Maschinensälen hineinversetzen konnte, als kennte er sie aus eigener Erfahrung, machte er nie den Versuch, sich auf die faschistoide Art, die unter dem Militärregime gang und gäbe geworden war, an die Spitze der Arbeiterschaft zu stellen. Er trug weiter seinen silbergrauen Anzug und den blütenweißen Hemdenkragen, jeder Zoll ein Mann der Firma, und stieg doch immer weiter in der Achtung der Belegschaft, als – beginnend mit dem Sitzstreik in einer Busfabrik im Jahre 1978, dem sich achtundsiebzigtausend Metallarbeiter anschlossen – eine Welle von Streiks und Arbeitsniederlegungen zu revolutionären Durchbrüchen bei den Löhnen, den Sicherheitsvorschriften, der Krankenversicherung und den Arbeitnehmerrechten führte. Massenversammlungen skandierten ihre Parolen in Fußballstadien, die Gewerkschaften verlegten ihre Büros aus dem Windschatten der Regierungs- und Konzernhochhäuser in die Kathedrale von São Bernardo, wohin sie die ebenfalls auf den Zug der Reform aufgesprungene Kirche eingeladen hatte. Das ideale Bollwerk gegen den Kommunismus ist eine verbürgerlichte Arbeiterklasse, und Tristão, dessen Bürgerlichkeit gerade erst porentief unter seine Haut eingedrungen war, diente als Enzym, das den Prozeß beschleunigte. Seine Sprache und seine Erscheinung waren so schwer einzuordnen wie bei einem Schauspieler im Fernsehen, was ihm bei den Arbeitern, die auch bei bitterster Armut mehr und mehr in der Flimmerwelt der Seifenopern, Nachrichtensendungen und Quizshows lebten, einen Vertrauensvorschuß eintrug.
Seine Textilfabrik ging aus dem Streikjahr 1980 mit intakten Beziehungen zwischen Firmenleitung und Belegschaft hervor. Es war offensichtlich geworden, daß die alten Klassengegensätze, die den Kapitalismus wie eine heißlaufende Maschine an den Rand der Explosion getrieben hatten, in einer Welt, deren ökonomische Maßstäbe von Japan und Deutschland gesetzt wurden, einem System der Partnerschaft und der gegenseitigen Interessenabwägung zwischen Regierung, Industrie und Bevölkerung Platz machen mußten. Der triumphale Sieg über die Militärs, den Tancredo Neves 1985 im Wahlmännergremium davontrug, und sein schockierender Tod in der Nacht vor seiner Amtseinführung als neuer Präsident zogen an Tristãos ratternder Welt aus Kette und Schuß
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