Brasilien
vorüber, ohne auch nur die Spur einer Laufmasche zu hinterlassen. Von Jahr zu Jahr geduldiger (und, wie zugegeben werden muß, auch gleichgültiger), hörte sich Tristão die Wortschwälle seiner Arbeiter mit der lindernden Höflichkeit und dem unverbindlichen Schweigen eines Psychoanalytikers an, dessen Patient zwar nie geheilt, aber doch befähigt wird, sich unter der Last seines täglichen Leids weiterzuschleppen. Tristão selbst fuhr gut dabei. Er nahm die seinem Status adäquaten Freizeitaktivitäten auf – Tennis, Jogging, Squash, Windsurfen – und meisterte sie alle mit der geschmeidigen Grazie und der latenten Wildheit, die ihm eigen waren. Er verführte sogar die Ehefrauen einiger Kollegen aus der gleichen Ebene der Firmenhierarchie, nachdem er begriffen hatte, daß auch dies ein Spiel war.
Trotzdem wurde Tristão in São Paulo nie ganz heimisch. Abgesehen von seinen täglichen Pendelfahrten in den Industriegürtel und den Wegen zu seinen Lieblingsrestaurants und dem Strandhaus in Ubatuba, verirrte er sich auch nach Jahren noch, fand sich plötzlich auf demselben Viadukt oder nach einer ungewollten Runde im gleichen oder einem gleich aussehenden Stadtviertel wieder. Er konnte sich des Eindrucks nicht entledigen, den er schon bei seinem ersten Aufenthalt vor beinahe zwei Jahrzehnten gewonnen hatte – daß die Stadt keine Grenzen und keine Form und nichts mit Rio gemein hatte, wo die Strände und die Brotlaibe der Berge die Straßen immer wieder zu zierlichen Taillen zusammenschnürten und von jedem Punkt aus ein Horizont von ungezähmter Natürlichkeit – nackter Felsengipfel oder sonnengrelles Meer – in Sichtweite war. Als er und Isabel, wie es ihre gesellschaftliche Stellung erforderte, nach Paris und Rom, New York und Tokio, Buenos Aires und Mexico City reisten, kamen ihm all diese Städte, abgesehen von dem nicht wegzuleugnenden Unterschied zwischen dem Eiffelturm und dem Colosseum, wie noch ein weiteres São Paulo vor, ein weiteres zementgraues Menschenmeer, das den Planeten überschwemmte. Mit Wehmut dachte er an die Leere des Mato Grosso zurück, als er und Isabel ihn zum erstenmal durchquert hatten, an den spirituellen Duft von tropischem Kernholz und die Flamingoschwärme, die sich in den nach Osten treibenden Schleiern unter blaubäuchigen Wolken erhoben, an die kopfstehenden Silhouetten der pinheiros, die ihr Nachtlager von einer fernen, rosigen Felsenklippe grüßten. Er dachte daran, wie ihn in der größten Not allein Isabels bleicher Leib am Leben erhalten hatte mit der Nahrung der Liebe.
Isabel, die sich an lückenhaften Kindheitserinnerungen an ihre Mutter und an ihre elegante Tante Luna orientierte, wuchs in die Rolle einer jungen Hausfrau der Mittelschicht hinein. Der Mittelschicht anzugehören bedeutete in Brasilien einen Lebensstil, der in anderen Ländern, wo der Wohlstand gleichmäßiger verteilt ist, als aristokratisch bezeichnet werden würde. Diener sind billiger als Haushaltsgeräte, und Isabel hatte von Anfang an eine Kombination aus Putzfrau und Köchin, der sich, als sie aus der Wohnung in Higienópolis in das Haus abseits der Rua Groenlândia umzogen, ein Kindermädchen zugesellte. Drei Kinder waren zu versorgen – Bartolomeu, der Sprößling des glaubensgeilen pardovasco, der äthiopische Augen und eine Hautfarbe hatte, die nur um eine Nuance heller war als Isabels eigene, und die drei Jahre später hinzugekommenen Zwillinge Aluísio und Afrodísia, die zweieiig waren, aber dem gleichen Erguß entstammten, den sie zu einer spätnächtlichen Stunde zwischen zwei Lambadatänzen in einer Besenkammer auf dem Weg zur Damentoilette des Som de Cristal von einem Mann empfangen hatte, den sie kaum kannte, einem Geschäftspartner von Tristão aus der Textilfabrik, der Polyestergarne lieferte und, trotz seiner überwiegend weißen Herkunft, mit seiner Tennisbräune und seiner raubtierhaften, massigen Männlichkeit dunkel genug wirkte, um ihr zu gefallen. Ein paar Minuten lang glaubte sie, einen bandeirante vor sich zu haben und wieder im Mato Grosso zu sein. Nachdem dieser Leichtsinn seine beunruhigende doppelte Frucht getragen hatte – keiner der zweieiigen Zwillinge zeigte auch nur eine Spur von Tristãos natürlicher Würde oder eine Strähne von seinem glatten, blonden Haar –, begann Isabel, Empfängnisverhütung zu betreiben, indem sie nur noch mit ihrem Mann schlief.
Sie hatte sich schon lange eingestanden, daß Unfruchtbarkeit der Preis war, den sie und Tristão für
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