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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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einst in Symmetrie zu Oskar und dessen Zahnlücke Haltebolzen festgezogen hatte – denn es wurden keine fuscas mehr gebaut –, sondern in einer Weberei in São Bernardo, einer der sogenannten ABCD-Städte, industriellen Vororten von São Paulo.
    Die Weberei war eine einzige riesige Halle, in der gigantische Webstühle an einem Lärmteppich webten, der sich mit Millionen von schnatternden Schlägen auf Tristãos Ohren legte. Jedes einzelne der Geräusche war leiser als das Prallen von Metall auf Metall in der fusca-Fabrik, aber sie drangen in ungleich größerer Dichte auf ihn ein. Sein erstes war, sich mit der kniffligen Materie von Kette und Schuß vertraut zu machen – mit den Geheimnissen der Lade und der Schlageinrichtung, den Unterschieden zwischen Atlas-, Taft- und Köperbindung, den Variationen beim Anheben der verschiedenen Kettfäden in ihren Litzenaugen, die Satin- und Damaststoffe, Schußsamt und Whipcord entstehen ließen, oder dem wahrhaft schwindelerregenden Vorgang, durch den sich ein Gewirr aus zahllosen wirbelnden Garnspulen mit Hilfe eines von Lochkarten gesteuerten Mechanismus aus Nadeln, Messern und Harnischfäden in die kompliziertesten Webmuster verwandelte.
    Der Webschützen, der das Schußgarn unter den angehobenen Kettfaden im Webfach hin- und hertrug, stellte für ihn das größte Mysterium dar, verkörperte er doch das Paradox, daß es kein Gewebe, keine dingliche Gewißheit ohne diesen unbestimmten Augenblick des Schwebens geben konnte, in dem der Schützen von einem Rand der Stoffbahn, Leiste genannt, zum anderen flog oder sein Flug von einem Paar von Greifern oder fest im Webfach installierten Fadenträgern oder sogar einer Stafette von Luft- oder Wasserdüsen simuliert wurde. Genauso liegt im Kern unseres Lebens ein übernatürlicher Sprung, eine oszillierende Unwahrscheinlichkeit. Wie mechanische Wunder ratterten und schnatterten die Webstühle und wiederholten ihren Arbeitszyklus aus Ketthochgang, Schützenschlag und Schußeintrag mit einer gnadenlosen Geschwindigkeit, bei der sich doch niemals ein Faden verhedderte: Das materielle Universum leistete der unmenschlichen Beschleunigung keinen Widerstand. Tatsächlich wirkten die menschlichen Wärter der Maschinen auf geradezu groteske Weise lustlos und weich, wie wahllos verstreute Lehmbatzen oder gelangweilte Zuschauer, die nur zu hektischer Aktivität erwachten, wenn eine Reihe von leuchtendbunten Kettspulen oder ein mehrfarbig bestücktes, schweres Schußgarnmagazin zur Neige gingen. Es waren überwiegend Frauen, die hier arbeiteten, und sie trugen alle Kopftücher, damit ihre langen Haare nicht in die Maschinen gerieten, die ihnen im gedankenlosen Bruchteil einer Sekunde die Kopfhaut vom Schädel gerissen hätten. Einige dieser Frauen hatten indianisches Blut in ihren Adern, andere waren mit der japanischen Einwanderungswelle gekommen oder mit der italienischen, die ihr vorausgegangen war, oder zusammen mit all den Zuwanderern aus dem östlichen Mittelmeerraum, die nur als turcos, Türken, bezeichnet wurden.
    Es gab noch einen weiteren, riesigen Saal in der Fabrik, in dem nach einem grundverschiedenen Verfahren die Wirkwaren hergestellt wurden. Das entscheidende Werkzeug der Maschinen, die hier arbeiteten, waren raffiniert geformte Nadeln von zweierlei Sorten, Spitzennadeln und Zungennadeln, wobei die letzteren ihr Öhr mit einer beweglichen Zunge an einem winzigen Scharnier öffnen und schließen konnten, was sie dazu befähigte, die Strickfäden einzufangen, zu Maschen zu verschlingen und wieder freizugeben. In allen Größen, von der eines Bleistifts bis hinunter zur Winzigkeit eines Mäuseschnurrbarthaars, waren diese Nadeln zu Barren, Kränzen, Tellern und Zylindern aufgereiht und wurden von Kurvenscheiben in ein endlos wiederholtes Auf und Ab von Strickbewegungen versetzt, die sich anhörten wie ein fressender Piranhaschwarm und laufende Meter von Maschenware in Bahnen oder Schlauchform hervorbrachten, so grob wie ein Skipullover oder so verführerisch fein wie ein Strumpfhosengespinst. Tristãos Versuche, die technischen Einzelheiten des Produktionsprozesses zu begreifen, trugen ihm Alpträume voller millionenfach zuschnappender Zähne ein und versandeten nach ein paar Wochen, als ihm klar wurde, daß seine eigentliche Aufgabe darin bestand, seinen Platz in der Firmenhierarchie zwischen den Managern über und den Arbeitern unter ihm zu finden und sich allen Bewegungen in der Organisationsstruktur des Unternehmens

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