Brasilien
von Japanern bewohnt, andere von Italienern; es gab sogar Bezirke für Juden und Araber, wo alle Schilder mit unverständlichen Schriftzeichen bedeckt waren. Man sah weniger Schwarze als in Rio, und das Klima war rauher, nicht vom Meer gemildert; heftige Gewitterstürme und böige Winde fegten ungehindert über die ozeanische Landmasse im Westen heran. Tristão fühlte sich nicht mehr wie ein streifendes Raubtier auf vertrautem Territorium, obwohl er, um in Übung zu bleiben, einige überreife Weiße mit Hilfe der Rasierklinge erleichterte. Er fühlte sich scheu, schwerfällig, selbst ein potentielles Opfer der gewaltigen Kräfte, die hier versammelt waren.
Die Menschen in São Paulo verbrachten nicht den ganzen Vormittag am Strand wie in Rio, sondern hasteten geschäftig hin und her wie Europäer, verkauften einander Waren aller Art und widmeten sich ihren finanziellen Transaktionen mit der gleichen Hingabe wie ein Carioca einer Liebesaffäre – Männer in dunklen Anzügen, die zu dritt oder zu viert nebeneinander über die Gehsteige stürmten und erregt gestikulierten und kreischten vor lauter Begeisterung füreinander und für ihre Geldgeschäfte. Nur hier und da, in den leeren Gesichtern der Prostituierten, die auf ihren langen Beinen durch die Rua dos Andradas stolzierten, oder in den Kerzen, die ihr Wachs zu Füßen einer mächtigen, plumpen Statue namens Mutter Afrika nahe dem Viaduto do Chá vertropften, ließ die Stadt spüren, daß das wahre Leben, das Leben der Ekstase und der Geister, unterhalb der Hektik des Geschäftslebens weiterexistierte. Tristão kaufte sich Stadtpläne von São Paulo, aber es waren nicht zwei darunter, deren Angaben übereinstimmten. Die Fahrtrouten der Busse wanden sich wie gequälte Schlangen durch die Stadt, und wenn er, ganz benommen vom Schlingern und Schaukeln, ausstieg und nach Norden zu gehen glaubte, ging er in Wirklichkeit nach Süden. Trotzdem führten ihn seine Streifzüge – ohne Isabel, die im Hotel zurückblieb und sich von der Leidenschaft der vergangenen Nacht erholte oder einen Liebesroman las – schließlich in die gesuchten Industriebezirke, die aus endlosen Reihen überfüllter Häuser, kaum größer als die Hütten in Rio, aber solide gebaut und mit eigenen, rechteckigen kleinen Grundstücken, und aus schäbigen Fabrikgebäuden bestanden, aus Gebäuden, die nach Arbeit aussahen und doch oft leer und unbelebt erschienen, so als käme die Arbeit in großen Wellen zu ihnen wie Gezeiten, bei denen jedoch die Ebbe die Flut überwog. Hinter den versiegelten Mauern hörte er die Geräusche von Maschinen, die in rasantem Tempo hämmerten, rührten, preßten, strickten, verkorkten. Zwischen diesen Gebäuden, die unregelmäßig verteilt waren und manches blinde Fenster zur Schau stellten wie eine Zahnlücke, erstreckten sich die verrosteten Schienen von Gleisanlagen, auf denen kein Zug mehr rollte, und von eingezäunten Lagerarealen, wo rätselhafte Stapel von Fertigbetonteilen und Holzpaletten allmählich in den Naturzustand zurückverwitterten. An den merkwürdigsten Ecken kämpften kleine Stadtteilzentren, bestehend aus mercearias und Bars, Friseursalons und Läden von Optikern, Wahrsagern und Flickschustern, um ihre Existenz, die von einem Rinnsal von Laufkundschaft abhing; Tristão erschien sie, verglichen mit den Armen Rios, deprimiert und dreckig, lustlos gekleidet und verbittert – ein Lumpenproletariat. Er hielt einige Passanten an und fragte sie, ob sie einen Mann namens Chiquinho kannten. Natürlich kannten sie ihn nicht, und sie lachten Tristão aus, weil er zu glauben schien, daß ein einzelner Name ausreichte, um einen Mann aus dem Menschenmeer von São Paulo, der größten Stadt von Südamerika, herauszupicken. Chiquinho Raposo, ergänzte er, aber sie lachten immer noch. Es gäbe Hunderte von Raposos, erklärten sie ihm. Sie trauten ihm nicht, weil er ein Neger in teuren Kleidern war und den Akzent der Cariocas hatte, der das S in ein schaumiges, weiches Sch verwandelte.
Sein älterer Bruder hatte die favela im Alter von elf oder zwölf Jahren verlassen, und Tristão war damals noch keine sechs Jahre alt gewesen. Die einzige Erinnerung, die er an ihn hatte, waren seine traurigen, hellen Augen und ein mitleiderregend dünner Hals. Chiquinho war durch die Schatten und die grelle Sonne ihres Lebens gegangen wie eine spröde Abstraktion. Er bewegte sich ohne Spannkraft, und seine Hände baumelten am Ende seiner knochigen Arme, als gehörten sie nicht
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