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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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dorthin. Ohne Zweifel würde er sich im Verlauf von dreizehn Jahren bis zur Unkenntlichkeit verändert haben.
    Tatsächlich aber hatte er sich nicht verändert: Tristão brauchte keine Sekunde, um ihn eines Tages, draußen auf dem breiten Bürgersteig vor dem Hotel, zu erkennen. «Bruder», sagte der dünne, große Mann, ohne zu lächeln. Er schien auf ihn gewartet zu haben.
    Chiquinhos Haut war vom Pastellbraun billiger Ziegelböden und entschieden heller als bei seinem Bruder. Sein Vater mußte ein Weißer gewesen sein oder noch wahrscheinlicher ein Mann, an dem alles grau war bis hin zu den Aluminiumaugen, die kalt aus gewellten Lidern starrten. Seit Tristão ihn zuletzt gesehen hatte, war er vom Kind zum Erwachsenen gereift; überall, wo seine Haut vom Mienenspiel und Blinzeln belastet worden war, sah man kleine, ausgetrocknete Fältchen. Sogar Chiquinhos dünner Hals war faltig wie ein ausgewrungenes Tuch. «Oh, was hab ich dich überall gesucht!» sagte Tristão, nachdem sie sich umarmt hatten.
    «Ja, ich habe von deinen Erkundigungen gehört», sagte Chiquinho, «aber ich war nie dort, wo du gerade nach mir gefragt hast. Es ist ein Wunder, daß wir uns in dieser Riesenstadt gefunden haben, wo die Menschen täglich zu Hunderten ankommen.» Er sprach langsam und betont, was nicht angenehm wirkte, und nur seine Lippen bewegten sich, während der graue Blick starr blieb.
    «Chiquinho, ich bin nicht allein. Ich habe jetzt eine Frau, eine companheira, und ich brauche einen Job in der Autofabrik.»
    «Ich baue keine fuscas mehr. Ich bin bei einer neuen Sache, Elektronik. Leider reicht meine Schulbildung nicht aus, deshalb stecke ich auf der untersten Ebene fest. Ich mache die Fabrik sauber, bis nicht mal mehr das kleinste Stäubchen übrig ist. Für das vertrackte kleine Ding, das wir herstellen und das alle mathematischen Probleme mit einem winzigen, gezielten Blitzschlag löst, ist ein Staubkorn das gleiche wie ein Kieselstein für einen Automotor. Dank der aufgeklärten kapitalistischen Prinzipien, die an die Stelle der gefährlichen sozialistischen Experimente von Quadros und Goulart getreten sind, wurde mir das Privileg gewährt, die Putzkolonne anzuführen, und am Abend belege ich Kurse, die mich in die Mysterien der neuen Technologie einführen sollen. Aber warum redest ausgerechnet du von Arbeit? Du bist gekleidet wie ein reicher Mann. Du wohnst Tag um Tag in diesem Hotel, in dem man stundenweise zahlt.»
    «Meine Frau und ich haben etwas Geld gestohlen, aber nun ist es fast aufgebraucht. Die Inflation hat es zurückgestohlen, die Inflation und unser verschwenderischer Lebensstil. Komm mit, du mußt sie kennenlernen. Sie ist schön und mir ergeben wie eine Heilige. Sie heißt Isabel Leme.»
    Chiquinho machte ein paar unbeholfene, flatternde Handbewegungen quer über seine Brust, um auf sein zerschlissenes Hemd hinzuweisen. Es war ein weißes Hemd mit kurzen Ärmeln, von der Art, wie Ingenieure es tragen, bis hin zum Plastikeinsatz in der Brusttasche, obgleich diese Tasche keine Stifte enthielt und der spitze Kragen an den Kanten durchgescheuert war. «Ich würde mich schämen, ihr in diesem Aufzug unter die Augen zu treten. Ihr müßt uns zu Hause besuchen. Ich habe auch eine Frau. Sie heißt Polidora. Hier ist meine Adresse, lieber Tristão. In unserer Straße gibt es jetzt elektrischen Strom, und die Stadt hat versprochen, daß wir auch eine Kanalisation bekommen. Nimm den Bus nach Belém, und dann halte dich südwärts, Richtung Moóca, ich zeichne’s dir auf.» Mit ein paar raschen Strichen skizzierte er eine Karte und nannte den nächsten Abend als Termin. «Es gibt Arbeit in São Paulo», fügte er noch hinzu, «aber es gibt auch viele Zuwanderer aus dem nordeste, die die Löhne drücken und wenig Skrupel haben, Störenfrieden die Kehlen durchzuschneiden. Aber ich werde mich umhören, um unserer Familie willen. Wie ist das Befinden unserer gesegneten Mutter?»
    «Sie lebt und flucht auf alles, ganz wie immer.»
    Chiquinho erlaubte sich ein Lächeln und ein starres Nicken. Aus der aluminiumgrauen Teilnahmslosigkeit seiner Augen schloß Tristão, daß er ihm nichts Neues gesagt hatte und daß die Frage nur aus Höflichkeit gestellt worden war. Als sie sich verabschiedeten, wiederholte Chiquinho mit Nachdruck: «Polidora und ich, wir freuen uns schon auf euch beide. Bring unbedingt deine Frau mit.»
    Es war eine unheimliche Begegnung gewesen, wie bestellt und dazu noch in einer Gegend, den Campos

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