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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Schwager!»
    «Wo war dein Anstand als Bruder, als mein Bruder, bei dem Verrat, durch den ich meinen Feinden in die Hände gefallen bin?»
    Chiquinhos kreidigbraune Arme zappelten unbeholfen, abwiegelnd: «Jeder Feind deiner Dummheiten ist mein Freund. Ich habe gehandelt, um dich aus deiner sexuellen Abhängigkeit zu befreien, und zwar auf Bitten unserer gesegneten Mutter.»
    Tristão lachte über diese absurde Lüge. «Meine Mutter fand Isabel gar nicht so übel.»
    «Ganz im Gegenteil – sie verabscheut sie, weil sie der Klasse der Unterdrücker angehört und sich dazu noch gönnerhaft verhält. Die Zuneigung ist ganz einseitig und gründet auf einer perversen Oberklassenpsychologie. Ich habe das Mädchen beobachtet, als sie hier war – sie war so furchtlos, wie es nur die unerreichbar Reichen sein können. Die bloßen Reaktionäre haben immerhin so viel Respekt vor den Armen, daß sie sie fürchten. Aber vergiß diese blonde Flaumfeder, so wie sie dich schon längst vergessen haben wird. Haben Polidora und ich dich nicht Tag um Tag verköstigt? Stehst du nicht besser da als vor zwei Jahren, als du zu uns kamst? Du hast einen gefragten Beruf, du hast Erspartes auf der Bank, und das alles in einer Zeit eines noch nie dagewesenen Wirtschaftswachstums – mehr als zehn Prozent pro Jahr!»
    Tristão staunte, daß sein Bruder, Kind einer schwarzen Mutter wie er, mit solcher Überzeugung das Gefasel des weißen Establishments nachbeten konnte. Wir lassen uns versklaven für Brotkrumen – für den bloßen Anblick, das bloße Gerücht von Brotkrumen. Während er sich der brüderlichen Umarmung noch zu unterwerfen schien, war Tristão fester denn je zur Flucht entschlossen.
    Er ging zur Bank und hob seine Cruzeiros ab – genug für mehrere Wochen, wenn er bescheiden lebte und sich der billigsten Verkehrsmittel bediente. Als Virgílio eines Nachts in sicherer Entfernung in Espírito Santo war, wo seine Mannschaft irgendein regionales Halbfinalspiel bestritt, wartete er ab, bis die Geräusche der überdrehten, schlafunwilligen Kinder hinter der Mauer seiner vergitterten Zelle und das gemurmelte Tagesresümee von Chiquinho und Polidora – ihr Nachbarschaftsklatsch und seine Berufsprobleme als Boß der Putzbrigade – verstummten und von einem vielstimmigen Schnarchen und Stöhnen abgelöst wurden. Nach dem schnapsgetränkten Elend und Verhau in der Hütte seiner Mutter war es interessant für ihn gewesen, ein hoffnungsvolles Ehepaar aus dem unteren Mittelstand zu beobachten. Chiquinho und Polidora waren für ihn ein Paar, das sich in gebückter Haltung durch einen engen Tunnel kämpfte, sich an feuchten Wänden mit Schmutz und Farbe beschmierte, sich den Kopf anstieß, wann immer es sich aufzurichten versuchte, und doch niemals den großen, lichten Saal erreichte, dem es zuzustreben meinte, mit einer hohen Decke und großen Fenstern und einem Blick auf die Welt. Je länger sie gingen, desto krummer wurden sie unter den flackernden Glühbirnen, und ihre Knochen wurden morsch und ihre Haut knitterte und die Haare fielen aus. Niemals würde Tristão sich einem solchen lebendigen Tod fügen, und wenn er Isabel nur wiederfand, war er vor ihm gefeit. Sie war sein unzerstörbares Leben.
    Durch die Wand neben seinem Kopf hörte er jetzt die selbstvergessenen Atemzüge von Schläfern. Bis auf die Schreie sich paarender Katzen und das Brummen gestohlener Elektrizität in heimlich installierten Trafos erscholl rund um das kleine Vorstadthaus kein Laut. Auf leisen Sohlen, nur mit seinem Nachtgewand aus einem Paar alter Schwimmshorts und seinem LONE-STAR-T-Shirt bekleidet, huschte er barfuß über den Ziegelboden und begann, seine Kleider und seine wenigen sonstigen Habseligkeiten in einen nagelneuen, orangerot leuchtenden Rucksack zu packen, den er kürzlich gekauft und unter sein Bett geschmuggelt hatte. Sein Plan war, diesen Sack unter einer verkrüppelten Gummipalme zu verstecken, die in einer Ecke von Chiquinhos winzigem Grundstück wuchs. Ihre orangeroten Früchte und die weit ausladenden, niedrigen Äste machten die Pflanze zu einem idealen, verschwiegenen Komplizen. Er wollte dann frühmorgens zur Fabrik aufbrechen wie immer, während die Kinder über Polidora und ihr Frühstück herfielen wie kleine Haifische, die aus einem größeren, sterbenden Hai gierige Happen herausbissen, und Chiquinho seine obligatorische Morgendusche nahm, um sich all die losen Hautpartikel vom Leib zu spülen, die auf den Computerchips Unheil

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