Brasilien
Schneide sehen konnte. Er spürte, wie sich seine ganze Person wie durch Magie in der gnadenlosen, scharfgeschliffenen Klinge konzentrierte, ganz ähnlich wie zwei Jahre vorher die beiden grauen Pistolen der käuflichen Killer das Wohnzimmer des Hauses in eine neue Perspektive gerückt und alle Linien neu gezogen hatten.
Er ließ den Rucksack und das Gewirr von Haltegurten auf den Boden gleiten. Während Chiquinho seinen Blick fest auf die funkelnde, sanft hin und her wedelnde Klinge geheftet hielt, packte Tristãos andere Hand den faltigen Hals seines Bruders, um den Kopf stillzuhalten. Dann legte er die Klinge mit einer Ecke an Chiquinhos Wange an. Mit beherrschten, genau abgemessenen Bewegungen durchbohrte er mit der Ecke die Haut und zog die Schneide dann quer durch das kreidige Fleisch bis zu der Stelle, wo der stoppelige Schatten des Tagesbartes begann. Der Schnitt, zirka fünf Zentimeter lang, öffnete sich weich und ließ einen schmalen, roten Streifen sichtbar werden; in Chiquinhos staubtrockener Kehle erklang ein rasselndes Geräusch. Unter Tristãos festem Griff versuchte der Adamsapfel auf und nieder zu rollen. Tristão ließ die Klinge vor den hypnotisierten Augen seines Bruders vorbeiwandern, als wolle er sie auf der anderen Wange ansetzen. Dann sah er eine beschwichtigende Glasigkeit in Chiquinhos Blick.
«Zeig das den Allmächtigen als Beweis, wie du gekämpft hast», schlug Tristão vor. «Endlich konnte ich dir eine Gunst erweisen, zum Ausgleich für die vielen Freundlichkeiten, die ich dir verdanke.»
12. Der Busbahnhof
So gelang Tristão die Flucht – wenn auch barfuß, in einer Badehose und mit einem T-Shirt, das so verblichen und zerfetzt war, daß seine Werbung für das Touristenrestaurant in Leblon fast nicht mehr zu entziffern war. Er hatte nicht den Eindruck, daß der Rhythmus dieser blutigen Auseinandersetzung unter Brüdern ihm die Rückkehr in sein Zimmer gestattete, um noch die Kleidungsstücke herauszuholen, in denen er ursprünglich aufbrechen wollte – die Leinenhose und das weite Seidenhemd, die ihm Isabel in ihren Flitterwochen geschenkt hatte. Chiquinho konnte sich vom Schock seiner Verwundung erholen und einen höchst hinderlichen Schrei ausstoßen. Lieber überließ er seine Klamotten ihrem nächsten Träger und setzte sich zügig in Trab, die Straße hinunter, immer darauf bedacht, sich keine der zahllosen Glasscherben in seine nackten Füße zu treten.
Er zählte die Querstraßen, und nach der zehnten verlangsamte er sein Tempo; er keuchte, und sein Rücken war unter den Tragegurten des Rucksacks schweißnaß. Mitternacht war vorbei, und die Omnibusse fuhren nicht mehr. Seine Fußsohlen, die zwei Jahre lang in Schuhen gesteckt hatten, waren weich geworden und schürften sich am Belag der Bürgersteige auf; auch war der Zement von São Paulo nicht mit dem Sand der Strände von Rio zu vergleichen. Er suchte sich seinen Weg aus Moóca hinaus in nördlicher Richtung und kam in bürgerliche Wohnviertel, wo ihn die argwöhnischen Blicke der Wachmänner vor den Häusern weiterscheuchten, wenn ihm auch Beleidigungen erspart blieben. Das intensivere Glühen des Himmels im Westen verriet ihm, wo das Zentrum der Stadt lag. Auf einer Überführung, die das Tal des Rio Anhangabahu überspannte und sich weiter zur Avenida do Estado erstreckte, überquerte Tristão die Grünflächen des Parque Dom Pedro, dessen Baumwipfel rauh wie erstarrtes Wachs ins Dunkel ragten. Als er die Grenzen des Stadtbezirks Sé erreichte, beschleunigte sich der Pulsschlag des Lebens: Aus Nachtlokalen und Kneipen drang die monotone Wohltat stampfender Musik.
Er hielt sich nordwärts, in Richtung der Estação da Luz, und stieß auf Mädchen in hohen, weißen Stiefeln und sehr knappen Shorts, die mit Männern plauderten, deren Blicke wie schwirrende Pfeile umherschweiften, immer auf der Suche nach einem Riß in der Mauer des Lebens, in dem der Wildwuchs einer Chance blühte. Eine der gestiefelten raparigas, ihre Haut vom Braun geschmirgelten und glattpolierten Zedernholzes, trat trotz seines abgerissenen Aussehens auf Tristão zu. Ihre enge Bluse gab die Brüste bis zur Gänsehaut der Warzenhöfe frei, und die Schamlosigkeit, die sie ausstrahlte, war so fröhlich und umfassend, daß seine arme Yamswurzel sich spontan zu versteifen begann. Es war die Stunde der Nacht, in der er sonst in einem immergleichen Alptraum von festgefressenen Bolzen gefangen war, in dem ihn ein fragmentierter Oscar wie aus einem
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