Brasilien
anrichten konnten. Unbemerkt würde Tristão dann den Rucksack unter der Palme hervorziehen, ihn auf seinen Rücken schnallen und auf Nimmerwiedersehen in Richtung Brasília verschwinden. Das Geld, das er abgehoben hatte, wurde zu einem Bündel geschnürt und im Rucksack versteckt; dann trat Tristão in die tiefe Nacht hinaus, um seine Konterbande unter der gekrümmten Gummipflanze zu verstauen.
Aber sein Bruder schlief gar nicht, denn die aluminiumverkleidete Haustür mit dem aufgeprägten Waffelmuster, das geflochtenes Schilfrohr imitieren wollte, war kaum hinter Tristão ins Schloß gefallen, als Chiquinho, ein bis auf Boxershorts nackter grauer Schatten, schon neben ihm auf dem Zementfußboden der Veranda stand. Er war um die Hausecke gekommen, von der Hintertür her. Seine Hand auf Tristãos Arm fühlte sich an wie eine der Roboterhände, die schwere Teile in der fusca- Fabrik bewegten. «Du kannst nicht fort.»
«Warum nicht?»
«Polidora und ich sind auf das Kostgeld angewiesen, das die Allmächtigen für dich zahlen. Dein Verschwinden würde Schande über uns bringen.»
«Du hast selbst Schande über dich gebracht, wenn du von den Entführern deines Bruders Geld annimmst.»
«Woher sonst soll man in Brasilien Geld bekommen, wenn nicht von den poderosos ? Sie werden dich umbringen, wenn du nicht parierst.»
«Der Tod ist nicht das Schlimmste, was einem Mann widerfahren kann. Ein Leben in der Niederlage ist schlimmer. Ein Leben ohne Isabel ist kein Leben für mich.»
«Sie hat dich längst vergessen.»
«Und wenn es so sein sollte, so muß ich es wissen.»
«Die Allmächtigen werden mir die Schuld geben. Sie werden sich an meiner Familie rächen.»
«Über all das haben wir schon gesprochen.»
Ihre Stimmen, umgeben vom Geschrei der Katzen, waren drängend, aber leise. Um die schlafende Familie im Haus nicht zu wecken, waren die Brüder ein paar Schritte in den kleinen Vorgarten hinausgegangen, wo die billigen Plastikspielsachen von Esperança und Pacheco auf dem niedergetretenen Gras und der festgestampften roten Erde herumlagen. Chiquinhos Hand lag noch immer auf Tristãos Arm wie eine Fessel. Er versuchte sie abzuschütteln, noch ohne Gewalt. «Sag ihnen, daß du mich nicht halten konntest. Es ist die Wahrheit. Mich gefangenzuhalten war nicht deine Aufgabe, sondern Virgilios.»
«Menschen wie wir kommen mit der Wahrheit nicht weiter. Sie bringen dich um in Brasilien, wenn du die Wahrheit sagst.» Im Licht der Straßenlampe wirkte Chiquinhos Gesicht wie gehämmertes Metall, eng aufgepreßt auf seine egoistischen Interessen. Er reckte es dem Bruder dicht entgegen, damit kein Wort seines heftigen Flüsterns verlorenginge. Aber was hatten diese großen Worte wie «Menschen wie wir» mit Tristão und seiner Sehnsucht nach Isabel zu tun – mit ihrer weißen Schönheit, die durch einen dunklen Raum floß wie zähes Öl, mit ihren beiden wohlgeschmierten unteren Ventilen, die sich seiner pochenden Yamswurzel so willig öffneten? Abermals versuchte er, mit größerem Kraftaufwand, seinen Arm zu befreien. Mit unterdrücktem Grunzen begannen die beiden Brüder miteinander zu ringen, erst auf dem kratzigen Grasfleck, dann draußen auf der leeren, blaubestrahlten Straße. Der vollgestopfte Rucksack war hinderlich, und die Angst um seine finanzielle Zukunft verlieh Chiquinho übermenschliche Kräfte. Doch die Muskeln von Tristãos freier Hand, gestählt von der zweijährigen Monotonie des Bolzenziehens, die ihn bis in die Rhythmen seines Schlafs verfolgte, schlossen sich wie eine Schraubzwinge um den knochigen Arm des Bruders, bis Chiquinho zu wimmern begann und zurücksprang. Da stand er, noch immer in Angriffsposition, die langen Arme ausgestreckt wie die Kampfscheren einer Krabbe, und er hätte sich wieder auf seinen Bruder geworfen, wäre nicht in dessen Fingern plötzlich die einschneidige Rasierklinge mit dem Aufdruck Diamant erschienen. Er bewahrte sie während der Nacht in seinen Shorts auf, für den Fall, daß Virgílio von einem verlorenen Fußballspiel betrunken, aggressiv und reizbar heimkehrte, was schon ein- oder zweimal vorgekommen war. Es war das Werk eines Sekundenbruchteils, die Klinge mit zwei schlanken, schnellen Fingern herauszufischen, und als er sie erst in der Hand hatte, verwandelte sie ihn in ein anderes Wesen mit einem langen, schlängelnden Tentakel. «Vorsicht!» warnte er und wedelte mit dem Tentakel langsam durch das Licht der Straße, so daß sein Bruder die aufblitzende
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