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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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er nicht mehr die Babar- oder Rin-tin-tin-Bücher dabei, aus denen er mir so wunderbar ausdrucksvoll und beseelt vorgelesen hatte, als ich ein Kind war. Jetzt setzte er sich nur hin, auf den Stuhl neben meinem Bett, und sagte gar nichts. Er wirkte abgespannt, und obwohl ich gar nichts tat, hatte ich manchmal das Gefühl, daß ich ihm, so jung ich auch war, etwas geben konnte, was ihm bei Tante Luna fehlte. Und dann kam es ja zur Trennung der beiden, und von da an war Onkel Donaciano zu den unmöglichsten Zeiten weg, oft auch für mehrere Nächte hintereinander, und ich kam zu den Nonnen, und so sahen wir uns seltener, und wenn, dann war es weniger angenehm. Ich, ich habe ihn geliebt und er mich auch, aber ich glaube, daß du die Qualitäten des Bluts der Lemes unterschätzt, Vater, wenn du deinen Bruder irgendeines körperlichen Übergriffs für fähig hältst. Als mein Behüter, zu dem dein Zeitmangel und dein beruflicher Ehrgeiz ihn bestellt haben, hat er seine Aufgaben in allen Ehren wahrgenommen.»
    Und doch war ihr, noch während sie ihren Onkel ohne Wenn und Aber freisprach und das Thema für alle Zukunft abschloß, als ob sich in den roten Nebeln ihrer tiefsten Erinnerungen etwas bewegte – eine Berührung, eine Sondierung, etwas Flüchtiges, das ihr Gedächtnis nicht ganz freigeben wollte. Wie erschreckend, dachte sie, daß man nicht nur wächst und seinen Erfahrungsschatz erweitert, sondern auch frühere Leben verliert. Wir bewegen uns vorwärts ins Dunkel hinein, und hinter uns schließt sich das Dunkel.
    Das Gesicht ihres Vaters schien im verzerrenden Licht vor Traurigkeit zu schmelzen, wurde immer formloser, immer schneckenähnlicher, während er seine Tochter mit seinen graublauen Augen, die um etliche Nuancen heller waren als die ihren, gedankenverloren musterte. Er dachte, was Isabel nicht wissen konnte, an eine ganz bestimmte rapariga, ein schwarzes Mädchen, das Sex verkaufte und den cachaça liebte, ein selbstzerstörerisches Mädchen mit einem kleinen, ovalen Kopf und einem schamlosen, schlanken Körper, das er regelmäßig zu besuchen pflegte, in seinen fröhlichen jungen Jahren in Rio vor seiner Heirat, und das schwanger wurde – von welchem ihrer ungezählten Männer, konnte niemand wissen. Sie verschwand aus seinem Leben und bekam das Kind, und als er jetzt Isabel anstarrte, fragte er sich, ob seine Tochter wohl irgendwo in Brasilien einen grauäugigen Bruder hatte, in dessen Adern völlig sinnlos das stolze Blut der Lemes floß.

11. Die Fabrik
    Inzwischen hatte Tristão dank diplomatischer Nachhilfe von oben eine Stellung in einer fusca- Fabrik bekommen. Die Autos, kleine VW-Käfer in den Farben Hell- und Dunkelbraun, denen sie ihren Brasilianischen Spitznamen fusca verdankten, wurden in einer gigantischen Fabrikhalle zusammengebaut, deren nördliches Ende wie ein gefräßiges Maul die herangekarrten Einzelteile verschlang, während das südliche Ende wie ein unermüdlicher Darmausgang die fertigen fuscas ausschied. Innen erstreckte sich, unter dem Himmel eines flachen Blechdachs mit Diagonalträgern und rasselnden, kreischenden Laufkränen für schwere Bauteile wie Motor und Chassis, ein so gnadenloses und so lautes Fließband, daß Tristão fürchtete, er werde hier nicht nur sein Ohr für Forrómusik verlieren, sondern seine Fähigkeit, sich des Lebens zu freuen. Die Maschinen verwandelten Menschen in Maschinen.
    Die erste Aufgabe, mit der man ihn betraut hatte, war das Zusammenfegen von Abfällen gewesen – von losen Schrauben, Styroporverpackungen von Fertigmahlzeiten, Metallspänen, Öllachen, den Exkrementen der industriellen Bestie. Dann stieg er in die Position eines rechtshändigen Bolzenziehers auf, zunächst an den Befestigungsbolzen der hinteren Trommelbremsen (sechzehn Millimeter Durchmesser, anzuziehen mit einem Drehmoment von dreiundvierzig) und dann, zu Beginn seines zweiten Jahres, an den Lagerbolzen des Motors, die siebzehn Millimeter im Durchmesser maßen, aber nur mit einem Drehmoment von zweiundzwanzig angezogen wurden. Der geringere Kraftaufwand und der verträglichere Arbeitswinkel verringerten die Schmerzen, die er am Ende eines Achtstundentages am Halsansatz und unterhalb des rechten Schulterblattes spürte. Wenn er sich abends zum Schlafen niederlegte, fühlte sich die Stelle an, als bohre jemand mit einer Ahle darin herum. Doch seine Muskulatur gewöhnte sich allmählich an die Belastung, und die Schmerzen verschwanden. Er staunte, wenn er seine Hände

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