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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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ihr Vater, der selbst im Begriff war, zu einer viertägigen Wirtschaftskonferenz nach Bogotá aufzubrechen, sie zu sich in sein Arbeitszimmer. Sichtlich befangen, bot er ihr eine Aus wahl von Getränken an, Weinbrand, gespritzten Weißwein, suco oder Mineralwasser.
    «Keinen cachaça ?» fragte sie und dachte an Ursulas Hütte mit ihrem süßlichen Gestank nach fermentiertem Zuckerrohr und stechender, eruptiver Weiblichkeit.
    Ihr Vater erlaubte sich ein vornehmes Schaudern.
    «Dann einen Weinbrand.»
    Widerstrebend schenkte er ihr das französische Elixier ein. Als das höfliche Blubbern aus dem Hals der Cognacflasche verstummt war, räusperte er sich und sagte: «Isabel, meine väterliche Pflicht zwingt mich, ein heikles Thema anzuschneiden.» Die Lampen im Arbeitszimmer waren auf ein schummeriges Leselicht heruntergeregelt, in dessen schrägen Schatten seine Stirn vornüberzufallen schien. «Es geht um meinen Bruder. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß zwischen ihm und dir ein ungewöhnliches Maß an Zuneigung und Vertrautheit herrscht.»
    Isabel zuckte unter der Schärfe des Weinbrands zusammen, dann sagte sie: «Seit meine Mutter gestorben ist und du deinen Kummer unter einem Berg von Arbeit und Reisen begraben hast, hat mein Onkel immer den Platz eines Vaters bei mir eingenommen.»
    «Ja. Ich bedauere, daß es so kommen mußte. Ich bitte dich, meine verspätete und nutzlose, aber aufrichtige Entschuldigung zu akzeptieren. Kann ich irgend etwas zu meiner Rechtfertigung anführen? Vielleicht war deine Gegenwart zu schmerzlich für mich, weil sie mich an deine Mutter erinnern mußte oder an den Wunsch, in Kindern fortzuleben, der zu ihrem elenden Tod geführt hat.»
    Isabel zuckte die Schultern. «Du hast dein Bestes getan, Vater, dessen bin ich sicher. Das Arrangement hatte seine psychologischen Vorteile. Es hat dich, was mich betrifft, der Gefahr der Enttäuschung entrückt. Jeder deiner eiligen Besuche bei einer Zwischenlandung in Rio, jede Woche eines gemeinsamen Urlaubs in Petrópolis oder in Patagonien oder in Miami war wie ein Zauber für mich. Hättest du mehr Zeit gehabt, wäre dieser Zauber schal geworden. Kinder brauchen körperliche Zeichen der Zuneigung, aber sie sind nicht wählerisch, woher sie sie bekommen. Tante Luna war gut zu mir, wenn sie nicht zu sehr von ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen in Anspruch genommen oder von einer ihrer Abmagerungskuren genervt war, und auch die Hausmädchen, die Köchinnen, die Nonnen in der Schule hatten immer eine Liebkosung, ein Lächeln, ein gutes Wort für mich. Ich hatte das Gefühl, daß man mich als besonders kostbares Geschöpf betrachtete, daß ich bevorzugt wurde. Immer stand deine hohe Position wie ein solider Schutzwall im Hintergrund.»
    Ihr Vater erlaubte sich abermals ein Schaudern. Als er seine Augenlider niederschlug, zuckte die zarte, feingeäderte Haut darunter wie die Nickhaut eines Frosches. «Eine traurige Kindheit, die du da beschreibst.»
    «Man braucht eine traurige Kindheit», versuchte sie zu trösten, «um erwachsen werden zu wollen.»
    «Mein Bruder –» fing er wieder an und unterbrach sich: «Sei offen zu mir, selbst wenn ich mir dein Vertrauen nie verdient habe. Hat mein Bruder, soweit du dich erinnern kannst, das enge Verhältnis, das der Tod deiner Mutter und mein Ehrgeiz zwischen euch gestiftet haben, jemals mißbraucht? Ich meine damit» – neues Zögern, neues Zittern in den Schatten auf seinem Gesicht –, «ob er jemals, in seinem physischen Verhalten dir gegenüber, die Grenzen überschritten hat, die einem Onkel gesetzt sind?»
    Er hatte die eine Stelle in ihr berührt, an der sie noch unschuldig war.
    Isabel fand die Frage quälend, sie zwang ihr einen völlig fremden Blick auf ihre eigene Geschichte, auf ihre sexuelle Entwicklung auf. Sie wurde rot, und der warme Schleier auf ihrem Gesicht schien auch ihre Kindheit zu verhüllen, alle Einzelheiten zu verdecken. Sie sah nur noch das Appartement, den Blick aus seinen Fenstern, der ähnliche Fenster und Appartementhäuser und einen funkelnden Streifen Ozean zeigte, aber nichts von den Bewohnern, nichts von den vielen Jahren, die sie mit ihrem Onkel dort gelebt hatte. «Er hat mich umarmt, wie es ein Onkel eben tut», tastete sie sich in die Erinnerung zurück, «und diese Umarmungen wurden vorsichtiger und taktvoller, sobald ich – sobald ich herangereift war. Manchmal kam er auch in mein Schlafzimmer, um mir einen Gutenachtkuß zu geben, und dann hatte

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