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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Imperialisten des Nordens.»
    Er wußte genau, daß sie gerne Gutes über die Schwarzen hörte. Sie hatte noch nicht mit ihm geschlafen, aber die Verhandlungen waren bereits weit gediehen. In der von Fackeln erleuchteten Dunkelheit einer nächtlichen Anti-Imperialismus-Demo war er an ihrer Seite zu finden, seine Hand um die ihre geschlossen, die kein feuriges Transparent und keine mahnende Kerze hochhielt. Im warmen Gemenge einer Kifferrunde, wenn Elis Reginas Bossa Nova oder der tropicalismo von Gilberto Gil oder, von ferneren Gestaden, der Jazz von John Coltrane oder das strahlende Spanisch von Joan Baez in Isabels träger werdendes Gehirn sickerten, waren es Sylvios Lippen, die sich plötzlich auf die ihren preßten, und Sylvios Hände, die einen Schleichpfad durch die Falten ihrer Kleidung suchten. Er hatte fettiges, gelocktes, schulterlanges Haar und war kleiner als sie, was aber nicht den Ausschlag dafür gab, daß sie noch nicht mit ihm geschlafen hatte. Sie fand einfach, daß der Augenblick noch nicht gekommen war, und sie fand es gut so. Solange sie noch nicht mit Sylvio im Bett gewesen war, hatte sie etwas in Reserve, worauf sie sich freuen, was sie sich ausmalen konnte. Sie war gerade einundzwanzig geworden, und ihr Leben schien immer leerer zu werden, statt daß es an Fülle gewann. Ihr Vater hatte seinen Posten in Afghanistan angetreten, und Onkel Donaciano kam immer seltener nach Brasília. Jetzt, da sie eine volljährige, erwachsene Frau war, interessierte sie ihn kaum noch. Es war die verkörperte Unschuld gewesen, die ihn an ihr fasziniert hatte, und auch die Möglichkeit, diese Unschuld zu verletzen. Man schrieb den Monat Mai, und hier auf dem planalto hielt der Winter mit sternenklaren Nächten Einzug, die sie zum erstenmal in ihrem Leben gezwungen hatten, ihre Garderobe um wollene Pullover zu ergänzen. Im laufenden Trimester hatte sie ihren Studienschwerpunkt von der Kunstgeschichte auf Botanik verlagert. Trotzdem spürte sie keinen festen Boden unter den Füßen, fühlte sich von ihrem Wissen nicht befriedigt. Der schiere Akt des Lesens und des Lernens – all diese widerspenstigen grauen Reihen voller Buchstaben, die in ihren Augen juckten und ihr ein zeilenweises Hin und Her aufzwangen, bis plötzlich irgendein Sinn herausgepurzelt kam wie ein zerknittertes Baby – bereitete ihr kein Vergnügen. Die Zukunft gehörte nicht mehr dem geschriebenen Wort. Sie gehörte der Musik und einem Strom von Bildern, der farbenfroh und endlos war wie die Seifenopern, die Fußballübertragungen, die Wiederholungen vom Karneval des vergangenen Februars. Sie hatte einen Fernseher im Schlafraum des Studentenheims aufgestellt, das sie zeitweise bewohnte, und ihre Zimmergenossinnen machten sich Sorgen um sie. Sie lebte in einer Traumwelt und war drauf und dran, von der Uni zu fliegen.
    Davon unbeeindruckt, zündete sie sich eine neue Zigarette-Marke Hollywood – an und gab Sylvio Kontra: «Die Schwarzen werden niemals revoltieren, weder bei uns noch dort oben. Sie sind viel zu fröhlich und zu gut. Sie sind einfach zu schön. Das war schon immer so. Die Indios sind in der Sklaverei gestorben, die Schwarzen haben sich darüber erhoben, dank ihres wunderbaren Naturells. Weil sie die Überlegenen sind, halten sie es aus, als Minderwertige behandelt zu werden. Wie die Juden sind sie in der Lage, in diesem gräßlichen zwanzigsten Jahrhundert zu leben – zu leben und nicht nur zu überleben.» Daß sie die Juden erwähnte, gehörte vielleicht zu ihrem Flirt mit Sylvio; es war ein kleiner Schritt auf dem Weg, der sie in ein gemeinsames Bett führen sollte, denn Sylvio stammte von jenen «neuen Christen» ab, die zusammen mit den ersten Kolonisten aus Portugal eingewandert waren und, anscheinend ohne irgendwelchen Vorurteilen zu begegnen, ihr Glück im Zuckergeschäft gemacht hatten. Trotzdem war ihre jüdische Herkunft niemals ganz vergessen worden; zwar hatte sich der Gegensatz zwischen «neu» und «alt» in dem Maße vermindert, in dem der Einfluß des Katholizismus im Lauf der Generationen geringer geworden war, aber wie ein Fettfleck in einem durchgescheuerten Tischtuch wurde er niemals ganz unsichtbar, wenn auch von Wäsche zu Wäsche weniger störend.
    Isabels Zimmergenossin Clarice, die schon mit Sylvio geschlafen hatte und mit Nestor schlafen wollte, obwohl ihr Isabel in einem kichernden Augenblick der Indiskretion verraten hatte, was sie erwartete, zog mit betonter Lässigkeit an ihrer Continental und

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