Brasilien
entgegnete kühl: «Ich glaube, du siehst das durch eine romantische Brille, meine Liebe. Wir alle tun es, um uns nicht schuldig fühlen zu müssen an ihrer hoffnungslosen Lage. Und das Infame ist, daß die Schwarzen selbst uns dabei unterstützen, weil ihr Elend so verdammt malerisch ist.»
Die andere Kommilitonin in der Runde, die pedantische Ana Vitória mit der erstaunlichen Frisur aus sienabraun gefärbten, abstehenden Haarbüscheln und einer winzigen, runden Drahtbrille auf einer ebenso winzigen Stupsnase, schaltete sich ein: «Und die gesamte zeitgenössische Soziologie im Kielwasser von Gilberto Freyre, diesem Weltmeister der Selbstbeweihräucherung, hat den gleichen romantisierenden Blick. Wenn die Brasilianer ihn nicht hätten, dann müßten sie der Realität ins Auge sehen – und der Realität von Karl Marx.»
«Marx ist genauso ein romantischer Narr», spottete Nestor. «Er sieht das Proletariat als strahlenden Übermenschen, aber in Wahrheit besteht es aus einer Ansammlung von sabbernden, kleinkarierten Schnorrern und Intriganten. Die Kommunisten machen genau dasselbe wie die Kapitalisten, sie kleistern die ganze Unterdrückung und die Brutalität in ihrer Gesellschaft mit glitzernden Mythen zu. Was sind Castro oder Mao oder Ho Chi Minh anderes als unsere Filmstars, unser Gary Cooper oder die Mickymaus auf dem Plakat? Alle Regierungen versuchen, uns die Wahrheit über uns selbst zu verschweigen. Nur im Zustand der Anarchie kommt die Wahrheit über den Menschen ans Licht. Wir alle sind Bestien, Wilde, Killer, Huren.»
Ana Vitória protestierte. «Was haben Huren in einer solchen Reihe von abwertenden Begriffen verloren? Eine Hure ist nichts weiter als eine Frau, die ihre weiblichen Trümpfe auf einem Markt von Angebot und Nachfrage zur Geltung bringt. Eure Damen der Gesellschaft, eure Gracia Patricias von Monaco machen genau dasselbe unter anderen Bedingungen. Es gibt keine sexuelle Moral. Die beiden Wörter sind ein Widerspruch in sich. Frauen müssen überleben.»
«Genau!» rief Nestor mit einem triumphierenden Unterton, wie ein Obrist, der mit dem Chaos aufräumt, um sich selbst zu installieren.
«Genau, genau», echote Clarice über den Tisch, der aus einem einzigen breiten Brett pau roxo bestand, an den Kanten angesengt von ausgedrückten Zigaretten und auf der ganzen Fläche klebrig von Eiskrem, die das Holz in sich aufgesogen hatte. Mit kehliger Stimme pflichtete sie Nestor bei: «Du sagst es – Anarchie ist der einzige ehrenwerte Zustand: die nackte Menschheit, ohne Romantik, ohne Kapitalismus, ohne den marxistischen Mist.»
Nestor wirkte verdattert angesichts des Kompliments. Sein aknefleckiger Kiefer sackte herab, als würde ihm jemand den Schwanz lutschen. Isabel schloß die Augen, stellte sich das wurmähnliche, weiße Organ vor und schauderte.
«Und du, Isabel, siehst du das auch so?» fragte Sylvio, der vielleicht glaubte, mit einer solchen Umwertung aller Werte seinem Ziel ihrer Eroberung näherzukommen.
«Ana spricht nur vom Überleben. Ich spreche vom Leben», sagte Isabel und fand selbst, daß sie sich naiv anhörte. Sie errötete ein wenig. In ihren Adern war ein Fieber, das sie den anderen nicht vermitteln konnte.
Sylvio hatte eine Ankündigung zu machen; sein breites Gesicht war angespannt und wachsam wie das Gesicht von Tristãos Bruder Euclides damals am Strand, und seine Stimme klang so verschwörerisch und drängend, daß selbst der Zigarettenrauch vor Aufmerksamkeit zu erstarren schien. «An diesem Donnerstag. Eine Protestkundgebung aller Studenten der Universität. Punkt zwölf geht’s los. Wir werden den Eixo Rodoviário bis zur Kathedrale hinaufziehen und dann auf den Palast des Präsidenten zumarschieren, bis die Polizei das Feuer eröffnet. Wir wollen, daß es Opfer gibt, wir wollen den internationalen Skandal. Das Fernsehen wird zur Stelle sein, man hat es uns versprochen. Die Aktion fällt zeitlich genau mit den Streiks in allen Textil- und Papierfabriken zusammen. Es wird wunderbar – wir werden die Bestie durch unseren eigenen Tod bezwingen. Die Überlebenden sammeln sich nachher auf dem Golfplatz.»
Trocken wie raschelnde Buchseiten kommentierte Ana Vitórias unbeirrbare, näselnde Stimme: «Studentenprotest ist das Gegenteil eines Arbeiterstreiks. Er ist ein Versuch der herrschenden Klasse, sich an der Macht zu halten, indem sie ihre Kinder Revolution spielen läßt.»
«Brasilien ist nicht zu romantisch, sondern nicht romantisch genug», holte Nestor,
Weitere Kostenlose Bücher