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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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angespornt von Clarice und ihrem schmachtenden Blick, aus. «Wir sind die pragmatischste Nation auf diesem Kontinent. Wer waren denn unsere Revolutionäre? Ein Zahnarzt, der schlechte Verse schrieb, und der Sohn eines Kaisers, der seinen Job als Regent retten wollte!»
    «Isabel», mischte sich noch eine andere Stimme ein, gleichzeitig fordernd und verhalten. «Isabel.»
    Sie öffnete ihre Augen und sah Tristão, der da am Ende der Tischplatte aus verwundetem Rosenholz stand, ein ranker, schwarzer Junge, bepackt mit einem orangeroten Rucksack und bekleidet mit einem T-Shirt, das so verblichen und zerfetzt war, daß der Aufdruck kaum noch entziffert werden konnte. Für einen blitzhellen Sekundenbruchteil unter den funkelnden Blicken ihrer perplexen Freunde war sich Isabel nicht sicher, ob sie ihn überhaupt kannte. Ihre erste Empfindung war Furcht. «Wie hast du mich gefunden?» fragte sie ihn.
    Ihr anklagender Tonfall ließ ihn lächeln. In der gelassenen Natürlichkeit, mit der er sein makelloses Gebiß entblößte, die kräftigen, rechteckigen, für selbstverständlich genommenen Zähne der Jugend, erkannte sie ihn wieder, erkannte ihn als den Verstärker alles dessen, was gut und wahrhaftig an ihr war. Seine Stirn, auch sie rechteckig, war höher, als sie sie in Erinnerung hatte, eine Bastion über den tiefliegenden Augen, in denen eine tintige, trauernde Dunkelheit stand. «Ich hab dich herausgeschnuppert», erklärte er mit einer Stimme, deren dunkler, samtiger Klang im weichen Tonfall der Cariocas die ganze ätzende Gesprächigkeit der Tischrunde wie mit einem Zauberbann zum Schweigen brachte. Die liebenswerte Form seiner Nase, die breitgedrückt war, als wolle sie den Nüstern einen größeren Zugriff auf die Luft und deren Düfte ermöglichen, ließ seine Übertreibung plausibel erscheinen.
    Seine Stimme hatte ihr Inneres in Schwingungen versetzt. Sie fühlte sich verwandelt: Cembalomusik wurde nun von einem vollen Streichquartett gespielt. Sein Lächeln erstarb in einem Diminuendo, wurde ernst, als er erzählte: «Virgílio hat von César gehört, daß du hier an der Universität studierst. Als ich aus dem Bus ausstieg, nach einer Fahrt von fünfzehn Stunden, habe ich herumgefragt, wo sich die Studenten treffen. Das hier ist das zwölfte Lokal, in dem ich gesucht habe. Du scheinst dich nicht darüber zu freuen, daß du mich siehst. Du bist kein Mädchen von achtzehn Jahren mehr.»
    « Doch, ich freue mich», sagte Isabel zu ihm, und zu Sylvio, der auf dem Außenplatz der Nische, zwischen ihr und der Freiheit saß, sagte sie: «Laß mich durch.»
    «Bist du in Schwierigkeiten?» fragte er zurück. «Wer ist dieser Lump?»
    Isabel hörte Sylvios Erbleichen in seiner Stimme. Sie hörte Angst heraus, die sich auf sie legte und sie schrill klingen ließ, obwohl er eben noch damit geprahlt hatte, daß er dem Militär vor die Gewehrläufe marschieren wollte, um mit seinem und ihrer aller Blut Schlagzeilen zu machen. Sie sammelte ihre Kraft und verkündete mit fester Stimme: «Er ist mein Freund.» Es reichte nicht ganz für die Worte: Er ist mein Mann.
    Clarice tauschte verschwörerische Blicke mit dem gegenübersitzenden Nestor, und neben diesem starrte Ana Vitória ein Loch in die Luft, als wartete sie darauf, daß ihr der Marxismus sagte, was zu tun sei. Statt sich zu erheben, drehte Sylvio trotzig die Oberschenkel zur Seite, so daß sich Isabel an ihm vorbeidrücken mußte, ihr Hintern im knappen Jeansrock nur ein paar Zentimeter vor seiner Nase. Nestors aknefleckige Wangen sahen aus wie geohrfeigt, soviel Röte hatte ihm diese überraschende Peinlichkeit, dieser Einbruch in das Studentenleben ins Gesicht getrieben.
    « Ciao, Freunde», sagte Isabel in die Runde.
    «Ciao», erwiderten sie in einem schwächlichen, dissonanten Chor.
    «Adeus», verabschiedete sich Tristão förmlicher, mit einer angedeuteten Verbeugung.
    Das schwere Botanik-Lehrbuch gegen ihre straffen Brüste gepreßt, folgte sie ihm durch die Vorhänge aus blauem Rauch ins Freie. Die frische Luft, der Nachthimmel, seine dunklen Muskeln neben ihr – das war Eiskrem von einer anderen Sorte, ein Genuß nicht für den Gaumen, für die Zunge, für die Kehle, sondern für weiter unten liegende Organe, die in direkter Verbindung mit der Seele und mit deren Aura standen. Durch einen Riß in seinem T-Shirt konnte sie ein dreieckiges Mal auf seiner Schulter sehen, das dunkler war als poliertes Rosenholz, und ihr fiel wieder ein, wie berührend anfällig

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